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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johnson
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Mal zog Marie sich um für einen Gang weg vom Haus. Die umliegenden Ferienvillen sind noch kaum belegt. Sie würde der jungen Frau an der Tankstelle begegnen, ein oder zwei Hunden, und sie hätte mit dem Altenteilbauern im Kaufhaus zu verhandeln. Aber sie vertauschte Hose und Pullover gegen ein ausführliches Kleid, schicklich für einen Kirchgang, sie klammerte ihr Haar in einen säuberlichen Pferdeschwanz, sie putzte ihre Schuhe für den Weg um den See. Die Einheimischen sollen nicht sagen können, ein Kind aus New York wisse sich nicht zu betragen auf dem Lande.
    Und als der erste Fremde ihr einen guten Morgen gewünscht hatte, entbot sie allen Folgenden die Tageszeit, New York zuliebe.
    Sie kam zurück und rätselte über Leute in New York, die Mrs. Cresspahl auf einer Party zum ersten Mal sehen und nach einer halben Stunde Gesprächs ihr Schlüssel versprechen für ein Sommerhaus am Lake Patton. (Sie trug es beiläufig vor; es sollte jedoch ein Lob sein für Mrs. Cresspahl. Die Mutter muß pflegerisch behandelt werden; morgen früh beginnt die Arbeit.)
    Sie brachte einen Text aus der New York Times, am Sonnabend übersehen, und übergab diesen sachlich, von Amts wegen, Material für die Arbeit: In der Stadt haben wir eine zuverlässige Tante, sie sorgt für uns.
    In 36 Zeilen bringt sie unter, daß der Außenminister der Č. S. R. Jan Masaryk im März 1948 aus dem Fenster fiel und daß Major Augustin Schramm, Sicherheitsbeauftragter im Außenministerium und der Mitschuld verdächtigt, ermordet wurde. Nunmehr ist ein Major Bedřich Pokorný, der beide Todesfälle zu untersuchen hatte, vor drei Wochen erhängt in einem Waldgebiet bei Brünn gefunden worden.
    Hast du das geglaubt im Jahr 1948? als du fünfzehn Jahre alt warst?
    Gestern abend haben wir erst über den Juli 1945 verhandelt. Wollen wir springen in der Erzählung?
    Nein. Aber ich seh schon.
    Du siehst was.
    Du willst nicht darüber sprechen, Gesine.
    Dann mußte sie noch eine halbe Stunde aushalten mit Sergeant Ted Sokorsky, dem Landpolizisten, der die Schlüssel der Gastgeber in Verwahrung hat. Mr. Sokorsky ließ sich freundlich nieder auf dem Bootssteg, nahm schüchtern ein Bier entgegen und begann in taktvollen Ausdrücken ein Gespräch über das Wetter. Er sprach sehr leise, und Marie nahm es für seinen Respekt vor Mrs. Cresspahl, einer Dame und Besucherin aus New York. Er war jung genug, und Marie hätte ihn gern bitten mögen um eine Tour rund um den See auf seinem ungefügen Motorrad, aber sie wollte ihm lieber vorführen, zu welcher vornehmen Zurückhaltung gewisse Mütter ihr Kind erziehen. Mr. Sokorsky sparte nicht mit der Anrede »madam« für Mrs. Cresspahl, er brachte nach dem Abschließen des Hauses eine Verbeugung aus dem Nacken heraus zuwege; nie wieder wird Marie ihn sehen, und auf Jahre hinaus wird sie in einem Gespräch über Polizei auf einen kommen, heißt Ted Sokorsky, nicht bullig sondern fast schmächtig, und mit welcher Ehrerbietung der meine Mutter behandelt hat, ich würd es Ihnen vorführen.
    Aber nun sind die Ferien auf dem Lande zu Ende, längst sind wir gegenüber Manhattan auf der Autobahn über die Pallisaden, und Marie ahnt schon die Stelle in den zierlich behauenen Wohntürmen, wo der feucht lilane Widerschein der abendlichen Sonne fünf Fenster trifft, hinter denen wird sie die Lampen einschalten, alle auf einmal.
    – Wenn du es erlaubst: heißt das: Gesine. By your gracious permission.
    22. April, 1968 Montag
    Morgens hing schwerer Dunst über dem Hudson, verblüffend hell, und wie ein Gast beim Frühstück zog er sich von Zeit zu Zeit ein weißes Auge frei, das blickte blind, blinzelte.
    Wer aber das Wetter New Yorks noch immer nicht versteht, gerät dann unter leichten Sprühregen auf dem Berg der 96. Straße zum Broadway, vom Zeitungsstand in die Ubahn hinunter lief sie schon, die Lexington Avenue entlang trottete sie wie viele andere zur Arbeit, die zum Dach gefaltete New York Times über dem Kopf.
    Spähte unter dem Rand hinauf zur Ampel an der 45. Straße, sah im Innern des Daches den Krieg übers Wochenende nachgeliefert: 31 tote Viet Congs in Kämpfen nordöstlich Saigons am Sonnabend, gestern morgen noch einmal 15 weiter nördlich …, trat vorwärts im Gedränge, eingefaßt von fremden Ellenbogen. Erst mittags, in der getrockneten Zeitung, las sie nach, daß die New York Times die Kämpfe um die fremde Hauptstadt nicht als amerikanische Verteidigung sehen mag, lieber als Offensive.
    Ihre
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