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Beton

Beton

Titel: Beton
Autoren: Thomas Bernhard
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Von März bis Dezember, schreibt Rudolf, während ich, was in diesem Zusammenhang gesagt sein muß, große Mengen Prednisolon einzunehmen hatte, um meinem zum dritten Mal akut gewordenen morbus boeck entgegenzuwirken, trug ich alle nur möglichen Bücher und Schriften von und über Mendelssohn Bartholdy zusammen, suchte alle möglichen und unmöglichen Bibliotheken auf, um meinen Lieblingskomponisten und sein Werk von Grund auf kennenzulernen und, so mein Anspruch, mit dem leidenschaftlichsten Ernst für ein solches Unternehmen wie das Niederschreiben einer größeren wissenschaftlich einwandfreien Arbeit, vor welcher ich tatsächlich schon den ganzen vorausgegangenen Winter die größte Angst gehabt habe, alle diese Bücher und Schriften auf das sorgfältigste zu studieren, war mein Vorsatz gewesen und erst darauf, endlich, nach diesem gründlichen, dem Gegenstand angemessenen Studium, genau am siebenundzwanzigsten Jänner um vier Uhr früh diese meine, wie ich glaubte, alles bisher von mir die sogenannte Musikwissenschaft betreffende von mir aufgeschriebene Veröffentlichte sowie Nichtveröffentlichte weit zurück- und unter sich lassende, schon seit zehn Jahren geplante, aber immer wieder nicht zustande gekommene Arbeit angehen zu können nach der für den Sechsundzwanzigsten bestimmten Abreise meiner Schwester, deren wochenlange Anwesenheit in Peiskam selbst den geringsten Gedanken an eine Inangriffnahme meiner Arbeit über Mendelssohn Bartholdy in seinen Ansätzen sogleich zunichte gemacht hatte. Am Abend des Sechsundzwanzigsten, als meine Schwester tatsächlich und endlich abgereist war, mit allen aus ihrer krankhaften Herrschsucht und aus ihrem sie selbst am meisten verzehrenden, andererseits sie tagtäglich neu belebenden Mißtrauen gegen alles und in erster Linie gegen mich, und den daraus resultierenden Fürchterlichkeiten, war ich mehrere Male aufatmend durch das Hausgegangen, um es einmal gut durchzulüften und schließlich in Anbetracht der Tatsache, daß schon der nächste Morgen der Siebenundzwanzigste sein wird, daran gegangen, alles für mein Vorhaben herzurichten, die Bücher, die Schriften, die Berge von Notizen und die Papiere, alles auf meinem Schreibtisch genau jenen Gesetzen unterzuordnen, die schon immer die Voraussetzung waren für einen Arbeitsbeginn. Wir müssen allein und von allen verlassen sein, wenn wir eine Geistesarbeit angehen wollen! Wie nicht anders zu erwarten, hatte ich nach den Vorbereitungen, die mich über fünf Stunden, von halbneun Uhr am Abend, bis halbzwei Uhr in der Frühe in Anspruch genommen hatten, den Rest der Nacht nicht geschlafen, vor allem quälte mich fortwährend der Gedanke, meine Schwester könne aus irgendeinem Grund zurückkommen und meinen Plan zunichte machen, sie war in ihrem Zustand zu allem fähig, der kleinste Zwischenfall, die geringste Störung, sagte ich mir und sie bricht ihre Heimreise ab und kehrt um und ist wieder da, es ist nicht das erste Mal, daß ich sie an den Wiener Zug gebracht und für Monate verabschiedet habe und zwei oder drei Stunden später war sie wieder in meinem Haus um zu bleiben, solange es ihr beliebte. Ich horchte die ganze Zeit wachliegend, ob sie nicht an der Tür sei, abwechselnd horchte ich, ob meine Schwester an der Tür sei und dachte dann wieder an meine Arbeit, vor allem, wie ich diese Arbeit beginnen werde, was der erste Satz dieser Arbeit sein wird, denn ich wußte noch immer nicht, wie dieser erste Satz lauten solle und bevor ich nicht weiß, wie der erste Satz lautet, kann ich keine Arbeit anfangen und so quälte es mich die ganze Zeit, zu horchen, ob meine Schwester nicht wieder zurückgekommen sei und was für einen ersten Satz ich über Mendelssohn Bartholdy zu schreiben habe, immer wieder horchte ich und war verzweifelt und immer wieder dachte ich über den ersten Satz meiner Arbeit über Mendelssohn nach, genauso verzweifelt. An die zwei Stunden dachte ich gleichzeitig über den ersten Satz meiner Mendelssohn-Arbeitnach und horchte, ob meine Schwester nicht wieder zurückgekommen sei, um meine Arbeit über Mendelssohn, noch bevor ich sie überhaupt angefangen habe, zunichte zu machen. Schließlich aber mußte ich doch aus Erschöpfung, weil ich immer noch intensiver horchte, ob meine Schwester vielleicht wieder zurückgekommen ist, gleichzeitig in dem Gedanken, daß sie, wenn sie tatsächlich wieder zurückkommt, meine Arbeit über Mendelssohn Bartholdy unweigerlich zunichte macht und dazu, wie der erste Satz
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