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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht
Autoren: Heinz G. Konsalik
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    Über die Straße von Augustow nach Sejny keuchte eine kleine Kolonne Motorschlitten. Ein eisiger Nordwind trieb Schleier von Pulverschnee über das flache, baumlose Land, das einer riesigen, kaum gewölbten Scheibe gleich mit dem graumilchigen Himmel zusammenstieß und in ihn überfloß.
    Auf den Ladeflächen festgeklammert an die hölzernen Holme, saßen dicht zusammengedrängt die Jungen und starrten aus den eisverklebten Gesichtern nach vorn. Vor sechs Stunden hatten sie in Suwalki vor einem Obersten gestanden und das Ritterkreuz bewundert, das ihm aus dem Kragen seines Lammfellmantels heraushing. Er hatte ein väterlich-strenges Gesicht aufgesetzt und gesagt: »Jungs! Nun kommt ihr an die Front! Was ihr in der Heimat auf dem Schießplatz gelernt habt, wird Ernst! Der Feind hat keine Platzpatronen, das dürfte sich im sechsten Kriegsjahr herumgesprochen haben.« Sie hatten über diesen blutigen Sarkasmus gelacht, denn der Oberleutnant hatte ihnen vorher gesagt: »Wenn der Oberst einen Witz macht … lacht, ihr lahmen Enten! Das hat er gern. Und vielleicht bekommt ihr eine Sonderzuteilung Schnaps für den Weg nach vorn!«
    Tatsächlich, sie hatten den Schnaps bekommen, und dazu noch weißgestrichene Stahlhelme, weiße Tarnüberzüge, einige Maschinengewehre, einen Schlitten voll Munition und Handgranaten.
    »Ihr seid Soldaten des Führers!« hatte der Oberst zur Verabschiedung gerufen. »Vorne warten sie auf euch. Macht's gut, Kameraden! Sieg Heil!«
    Dann waren sie abmarschiert, zackig, mit einem Lied von der schwarzbraunen Haselnuß. Der Oberst sah ihnen nach, bis sie zwischen den Hütten am Rande Suwalkis verschwanden und nur noch ihre jugendlichen, fast kindlichen Stimmen zu ihm herüberwehten.
    »Scheiße!« sagte der Oberst mit dem Ritterkreuz. Er griff sich an den Hals und umklammerte den Orden, als drücke er ihm die Luft ab. Dann ging er zurück in sein Zimmer und unterschrieb den Bericht, den die Divisionsschreibstube fein säuberlich in vier Exemplaren in einer Unterschriftsmappe vorgelegt hatte:
    Verabschiedung von 57 Mann Ersatz für Kampfgruppe Bauer, 170.
    Inf.-Div., 4.10.1944, 9.20 Uhr, durch Kommandeur.
    Nun fuhren die 57 Jungen sechs Stunden lang durch die eisige Kälte, starrten über das flache Land und in den milchigen Himmel und lauschten angestrengt auf das ferne Rummern und dumpfe Grollen, das ab und zu durch den Motorenlärm drang. Dann starrten sie sich gegenseitig an, und in ihren Augen standen Angst und krampfhafte Tapferkeit.
    Die Front. Man hört sie schon. Und dort warten sie auf uns. Auf 57 Jungen von 17 bis 19 Jahren, in sechs Wochen ausgebildet, mit vier Schlitten, neun Maschinengewehren und 300 Handgranaten. Der Ersatz.
    Im ersten Schlitten saß am Lenkrad Erich Schwabe. Er war ein alter Hase, ein uraltes Frontschwein mit sieben Verwundungen, hatte einen ›Klempnerladen‹ auf der Brust und wurde trotz seiner knappen 26 Jahre von den Jungen wie ein Vater angesehen. Als er den Ersatz übernahm, war er gerade aus einem Heimaturlaub zurückgekommen, er hatte im Keller seines Hauses gesessen, während über ihm die Stadt in Flammen aufging und auch sein Wohnhaus hinweggefegt wurde. Er hatte danach in einer übriggebliebenen Kellerecke auf einer alten, muffigen Matratze gelegen, seine zitternde Frau Ursula in den Armen. Zum erstenmal war ihm damals der Gedanke gekommen, ob der Krieg nicht sinnlos geworden war. Er sprach ihn nicht aus, aber er drückte Ursula an sich und ging nach diesen zehn Tagen Urlaub zurück nach Rußland mit dem Schrei seiner Frau im Herzen, der sich in ihm festgebrannt hatte: »Komm wieder, Erich …!«
    »Wie lange dauert's noch, Herr Feldwebel?« rief jemand hinter Schwabe.
    »Noch drei Stunden!« schrie Schwabe zurück.
    »Dann sind wir Eisklötze …«
    »Da vorn werdet ihr schon aufgetaut werden. Da ist's heiß genug!« brüllte Schwabe. Der Schlitten rumpelte über die Straße. Wie glattgefegt war sie vom Wind, eine Eisbahn, die in die Unendlichkeit führte.
    Erich Schwabe sah auf seine Armbanduhr. Eine lederne Schutzhülle umschloß sie. Seit 1940 trug er sie am linken Handgelenk. Er hatte sie in Paris gekauft, in einem kleinen Laden unterhalb der Sacré-Cœur. Von Paris war sie mitgezogen nach Griechenland, von dort nach Rußland bis kurz vor Moskau und dann den ganzen langen Weg zurück bis hier nach Suwalki. Die Lederhülle hatte er gepflegt wie seine Schuhe, sieben Verwundungen hatte die Uhr überstanden, sie war nie stehengeblieben und nie in
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