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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Autoren: Pascale Hugues
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Meine Straße
    Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet hierher gezogen bin. Warum in diese und nicht in eine andere Straße. Die Entscheidung für eine Adresse ist willkürlich, wenn man neu ist in einer Stadt, die Prozedur immer dieselbe, wenn man sich Enttäuschungen ersparen will: Man faltet einen Stadtplan in großem Maßstab auseinander. Versucht sich in dem dichten Raster aus Straßen, Kreuzungen, Brücken, Plätzen und Bahnlinien zurechtzufinden. Zieht Bleistiftkringel und markiert «Park», «U-Bahn», «Bahnhof», «toller Kiez!». Man grenzt die in Frage kommenden Sektoren ab und ordnet die Viertel nach Präferenz in absteigender Reihenfolge: von perfekt bis zumutbar, vom äußersten Kompromiss bis zum völlig Ausgeschlossenen.
    Welches Argument hat letztendlich den Ausschlag gegeben? Die zentrale Lage? Die Nähe zum Markt? Zur U-Bahn? Die Caféterrassen in den Nachbarstraßen? Die nächtliche Ruhe? Der besänftigende Schatten der Kastanienbäume an den Gehsteigrändern? Hatte ich mich vor allem von der Notwendigkeit drängen lassen, so schnell wie möglich unterzukommen, da mir die Zeit fehlte, wochenlang nach der idealen Straße zu suchen? Vielleicht war es auch nur ein banales Zusammenspiel der Umstände: Eine Wohnung wurde just in dem Augenblick frei, als ich eine suchte. Die Zeitungsanzeige versprach
Eine ruhige innerstädtische Straße mit Altbausubstanz in guter Wohnlage
. Was will man mehr? Wahrscheinlich habe ich nicht lange überlegt. Es war mein Glückstag.
     
    Bei der Wohnungsbesichtigung war ich bezaubert vom Gipsstuck an den Decken. Über meinem Kopf schlängelten sich mit Kastanien durchsetzte Blätterranken dahin. Dann war da die hohe Schiebetür im Wohnzimmer, die ovalen Milchglasscheiben in der oberen Hälfte, das Knacken des Parketts unter meinen Schritten, die großen gusseisernen Heizkörper hinter ihrem Schutzgitter, Baujahr 1905 , die ziselierten Messinggriffe an den Fenstern, die kleine, sonnendurchflutete Loggia mit ihrem schmiedeeisernen Geländer. Wieder hinunter ging’s mit dem alten Fahrstuhl, zu dem nur die Bewohner den eigenartig krummen Schlüssel besitzen. Zwischen dem zweiten und dem ersten Stock machte der Fahrkorb aus dunklem Holz einen heftigen Ruck. Um mich dann in der mit granatfarbenem Marmor bekleideten Eingangshalle wieder abzusetzen.
    Die Prokuristin der Eigentümergesellschaft, Kulturperlen um den Hals, Körbchengröße I, überquellend, Haare nach Mode der Seventies zur Banane toupiert, gekünsteltes Lächeln im Gesicht, fing mich vor der Eingangstür ab, um mir die «her VOR ragende Infrastruktur» anzupreisen: eine «Hauswartsfrau, die jeden Wunsch von den Augen abliest, eine wöchentliche Putzkolonne, die die Gemeinschaftsbereiche gründlich besorgt (sie hatte das
gründlich besorgt
mit solcher Vehemenz ausgesprochen, dass ich keinerlei Mühe hatte, sie mir als Amazone an der Spitze einer Horde unerschrockener Putzfrauen vorzustellen, die zum Sturm auf den Dreck ansetzt), Nachbarn
mit Niveau
(oh, dieses Substantiv, das sie sich wie ein Sahnebonbon auf der Zunge zergehen ließ … Aussichten auf Hauskonzerte, Bridge-Nachmittage, mondäne Cocktailpartys, bei denen Tabletts mit Häppchen und Sektgläsern herumgehen), keine Kneipen, die mitten in der Nacht ihre mit Korn vollgelaufenen Säufer auf den Gehsteig ausspucken, gute Schulen für die Kinder «innerhalb eines Radius von 500  Metern» – während sie mir diese Auskunft erteilte, zog sie mich mit ihrem Blick aus und taxierte die Kurve meines Bauches, aber die Frage zu stellen, die ihr auf den Lippen brannte, hat sie sich denn doch nicht getraut – und als schlagendes Argument schließlich die Nähe zum KaDeWe, ihr ureigenes Terrain. Fünf Minuten Weg! Mit Bushaltestelle vor der Tür! KaDeWe … Sie hatte die drei Silben voller Ehrerbietung und mit Augen deklamiert, die funkelten wie die Schaufenster des großen Kaufhauses kurz vor Weihnachten. Im Bewusstsein, dass mein Schicksal in ihren Händen ruht, sortierte die Prokuristin in Windeseile meine soziale Lage: Lohnkarte, Arbeitgeber … Zack, zack. Sie hatte große Übung darin, die Leute in ihrer kleinen hausgemachten Hierarchie unterzubringen. Ich hatte keinen Titel vorzuweisen … Purzelbaum nach unten. Ich war Französin … Ein Argument, um aufzusteigen oder noch tiefer abzurutschen? Ich habe es nie erfahren.
    An der Türschwelle trennten wir uns. Sie streifte sich die beigefarbenen Kalbslederhandschuhe über, hupte kurz und kräftig, und
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