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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Natürlich, dachte er, während er krampfhaft schluckte. Ich habe ja keinen Mund mehr, keine Lippen, nichts, nichts … nur eine Höhle, in die man jetzt die Flüssigkeit schüttet, ein saugendes Loch …
    »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?« fragte die Stimme.
    Schwabe schüttelte den Kopf.
    »Soll ich Ihrer Frau schreiben? Ein paar Zeilen, daß es Ihnen gut geht … ich lese sie Ihnen vor …«
    Schwabe schüttelte wieder den Kopf. Daß es mir gut geht, will sie schreiben, dachte er. Natürlich, was soll sie sonst an Ursula schreiben? Soll sie schreiben: Ihr Mann kommt zurück, aber er hat kein Gesicht mehr …? Seien Sie tapfer, kleine Frau … auch Ihr Mann ist tapfer. Es wird alles wieder gut werden …
    Mein Gott … Ursula … Wer soll es ihr sagen? Wie kann man es ihr sagen … Kann man es ihr überhaupt sagen?
    »Was kann ich für Sie tun?« fragte Schwester Erna wieder.
    »Nichts!« schrie Schwabe plötzlich in seinen dicken Verband. »Nichts! Nichts! Nur bleiben Sie bei mir … bitte, bitte, Schwester … bleiben Sie bei mir. Lassen Sie mich nicht allein … bitte … bitte …«
    Er krallte sich in ihre Hand fest, er hörte, wie sie leise aufschrie, als sich seine Nägel in ihre Haut bohrten.
    »Nicht allein lassen«, stammelte er. »Nicht allein lassen … Schwester … ich bitte Sie … ich … habe doch kein Gesicht mehr …«
    Und der Zug fuhr, vier Tage und vier Nächte – bis Bernegg.
    Bernegg ist eine kleine fränkische Stadt mit 4.000 Einwohnern. Zwei Sehenswürdigkeiten rissen sie bisher aus der Anonymität anderer Kleinstädte heraus: eine Kirche mit einer Pietà von Tilman Riemenschneider und ein Barockschloß, das früher dem Fürstbischof von Würzburg als Jagdresidenz gedient hatte. Beide historische Werke lockten in Friedenszeiten die Fremden nach Bernegg, einmal, weil man Riemenschneider für die Bildung brauchte, und zum anderen, weil auf dem Schloß, oder besser gesagt in der Schloßbrauerei, seit Jahrhunderten ein würziges Bier gebraut wurde.
    Mit Beginn des Krieges verschoben sich die Sehenswürdigkeiten. Tilman Riemenschneiders Pietà blieb, aber aus dem Schloß Bernegg wurde ein Lazarett, aufgegliedert in Block A, Block B und Block C, in denen in stetigem Wechsel über 400 Verwundete versorgt wurden. Nur im Block B blieben die Patienten länger, oft ein, zwei Jahre. Er war ein langgestreckter, vier Stockwerke hoher Seitenflügel des Schlosses, der in die Hauskapelle mündete. Er hatte einen eigenen, von einer hohen Mauer umgebenen großen Park mit einem schönen Weiher, einen eigenen Eingang, eine besondere Wache und eine von den anderen Blocks getrennte Zufahrt. Es war das Speziallazarett der Gesichtsverletzten, das Haus der verlorenen Gesichter.
    Das große Einfahrtstor war durch ein riesiges Gitter gesichert. Gleich dahinter lag die Wache in einer ehemaligen Kutscherwohnung. Von dort führte der Zufahrtsweg in einem Bogen zur Schmalseite des Blocks B, wo, von anderen Blicken durch Buschgruppen abgeschirmt, die Verletzten ausgeladen wurden. Sie kamen sofort in einen Vorraum und von dort in einen kleinen OP, wo die erste Untersuchung stattfand und die Verteilung auf die Stationen. Gegenüber lag der Vorbereitungsraum I und dahinter der große OP, der auch von den anderen Abteilungen des Lazaretts nach einem genauen Plan benutzt wurde. Dienstag, Mittwoch und Freitag operierten die Gesichtschirurgen, Montag und Donnerstag bezogen aus Block A die ›großen Metzger‹ den OP, um Arme und Beine zu amputieren. An OPs und Röntgenstation schlossen sich im Parterre drei-, vier-, sechs- und zehnbettige Zimmer, während in den oberen Etagen Krankensäle für bis zu zwanzig Verwundete waren. Die Keller waren zu Bunkern ausgebaut und ebenfalls mit Verwundeten belegt.
    Es war später Abend, als der Lazarettzug etwas außerhalb des Bahnhofs Bernegg neben einer zu den Schienen parallellaufenden Straße hielt und auf die Sankas wartete, die von Schloß Bernegg zur Übernahme der Verwundeten herüberkommen sollten. Im Bahnhof selbst wurden keine Verwundeten mehr ausgeladen. Der Generalarzt hatte es verboten – im Auftrage des Befehlshabers des Heimatheeres, Heinrich Himmler. »Der Anblick dieser Verstümmelten kann im sechsten Kriegsjahr leicht zu defätistischen Stimmungen führen«, hieß es in einem geheimen Tagesbefehl, der nur dem Chefarzt von Bernegg bekannt war. Seitdem hielten die Transporte immer außerhalb der Stadt an der Parallelstraße und luden die Verwundeten in die
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