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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Reparatur gewesen. Einmal war sie ihm gestohlen worden, von einem Gefreiten, als er nach einer Operation in Narkose lag. Der Gefreite wurde später verlegt, mit einem gebrochenen Nasenbein. Aber Schwabe hatte seine Armbanduhr wieder.
    Die vereisten Schlitten ratterten durch den bleiernen Tag. Der Weg senkte sich jetzt etwas, wurde abschüssig, und die Schlittenfahrer zogen die Bremsen, spitze Eisenhaken bohrten sich in das Eis und verringerten die Geschwindigkeit.
    »Festhalten!« schrie Schwabe nach hinten zu seinen Jungen. »Wenn die Zinken brechen, geht's los wie auf einer Bobbahn!«
    Die jungen Soldaten klammerten sich an die Holme und aneinander. Unter ihnen jaulten die Eisenspitzen, die Schlitten krachten in sich und schüttelten sich wie frierende Hunde.
    Erich Schwabe preßte die Bremsen mit aller Kraft gegen die Straße. Mit beiden Händen umklammerte er das Steuerrad und sah die abschüssige Straße hinab, die einige hundert Meter weiter wieder sanft ausglitt in eine Ebene, glatt wie ein abgewischter, weißlackierter Tisch.
    Auf diesem Stück Straße war die Fahrbahn ohne Erhebungen. Schwabe kannte diese Strecke. Im zweiten Teil geht's los, dachte er. Dann war der Drall so groß, daß es mit Heißa abwärtsgeht. Mit einem vollen Schlitten ist das Mist; man kommt unten an wie eine Granate.
    Er beugte sich vor und starrte auf die glatte Eisfläche. In diesem Augenblick sah er es, und es war ihm, als schlage ihm eine Riesenfaust auf das Herz und nehme ihm die Luft.
    Mitten auf der glatten Straße war ein kleiner Eishügel. Nicht groß, vielleicht wie der Durchmesser eines Suppentellers. Ganz flach hob er sich über die Fläche hinaus, wie ein einsamer Pickel auf einer sonst reinen, makellosen Haut.
    Erich Schwabe preßte die Bremsen ins Eis. Unter ihm knirschte und polterte es, der Schlitten machte einige Sätze und sprang über die bremsenden Eisenspitzen hinaus. Mein Gott, dachte Schwabe, o mein Gott! 17 Jungen habe ich hinter mir, und sie wissen nicht, was da vorne auf der Straße ist. Dieser kleine Buckel aus Eis, diese flache Scheibe! Was wissen sie von der Kampfweise der Partisanen? Im Winter hacken sie die Straße auf, legen eine Mine in das Loch, schütten Wasser darüber und lassen das Loch zufrieren. Nur wenn ein Fahrzeug über diesen Eisbuckel rollt, reagiert der Zünder. Dann bricht die Erde auf, und das Denken hat aufgehört, das Leben, die Hoffnung, alles. Nur eine Wolke aus Erde, Eis und zerfetzten Leibern bleibt übrig, die nach Sekunden der Schwerelosigkeit zusammenfallen wird und die der nächste Schnee zudeckt wie ein Leichentuch.
    Der Schlitten raste die Straße hinab, auf die Mine zu. Hinter ihm ratterten die drei anderen Schlitten in Abständen von fünfzig Metern. Der letzte war der Munitionsschlitten. Auf ihm saß der Transportkommandant, ein junger Leutnant, der den im Einsatz in vorderster Linie gefallenen Kompaniechef der 10. Kompanie ersetzen sollte.
    Erich Schwabe umklammerte das Steuerrad, als könne er damit den Schlitten zurückreißen. Noch wenige Sekunden, dachte er. Wir können nicht mehr bremsen. Das Eigengewicht ist zu stark bei diesem Gefälle, die Eisenspitzen springen einfach aus dem Eis oder brechen ab. Selbst zur Seite lenken ist unmöglich – ehe der Schlitten reagiert, hat er die Mine im Eis längst erreicht.
    Mein Gott, mein Gott, dachte Schwabe. »Komm zurück …!« hat Ursula gesagt. Geschrien hat sie's, als sie neben dem Abteilfenster herlief, über den Bahnsteig hinaus, durch den Schotter neben den Schienen, der ihr die Strümpfe und Schuhe zerriß. »Komm zurück …!« Und er hatte ihr zugewinkt und krampfhaft gelächelt. Und auf die Uhr hatte er gesehen. In einer Stunde spätestens wird es wieder Fliegeralarm geben. Dann wird Ursula wieder im Keller sitzen, an die feuchte Wand gepreßt, das weiße Gesicht nach oben, und sie wird die Bomben zählen und auf das Zischen lauschen … Das ist weiter … das war nah … noch näher … jetzt … jetzt …
    Erich Schwabe stieß den Kopf vor. Fliegeralarm, dachte er. Das haben sie geübt, die Kinder hinter mir im Schlitten. Das kennen sie, damit sind sie groß geworden … Früher spielte man im Garten Verstecken … heute lernt man: Fliegeralarm. Er riß den Kopf herum. Er sah in vereiste Gesichter, in junge, müde Augen unter weißen Stahlhelmrändern, in Blicke, die ihn anstarrten wie erfrorene Klagen.
    »Fliegeralarm!« schrie Schwabe in diese Kindergesichter hinein. Sein schreiender Atem wehte weiß über sie
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