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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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Enkelkinder

    Hetty Simmonds war Witwe und wohnte nicht allzu weit von der Synagoge. Deshalb beschloss ich eines Tages, als ich noch ziemlich neu in der Gemeinde war, sie zu besuchen. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, alle Mitglieder kennenzulernen, vor allem diejenigen, die nicht in die schul 1 kamen.
     
     
    Hettys Haus - es war ziemlich klein und stand mitten in einer Häuserreihe - war tadellos, ebenso der kleine Vorgarten. Ich wurde bereits erwartet - mit Tee, kleinen Tassen mit dünnen, gebogenen Henkeln und einem Teller mit selbst gebackenem Biskuitkuchen. Wir machten höflich Konversation: Sie fragte, wie mir die Stadt gefiel, sprach über die Parks und das Einkaufszentrum und darüber, wie es früher war, als sie noch ein Kind gewesen war, solche Themen eben. Es war alles ziemlich harmlos, nichts als einzelne Informationsfetzen, die irgendwo im Gedächtnis verstaut wurden, für den Fall, dass sie später einmal wichtig werden könnten.
    Überall standen Fotos herum, in billigen vergoldeten Rahmen: auf dem Kaminsims, auf Regalen, auf einem Tisch vor dem Erkerfenster. Ich hob eines hoch - es war das Bild einer ziemlich beeindruckenden jungen Frau mit einem großen, wohlgeformten Busen in einem engen Pullover, braunen, welligen Haaren - und fragte höflich, wer sie sei.
    »Oh, das ist meine Tochter Rosemary«, sagte Hetty. »Das Foto ist schon etwas älter. Und hier«, sie deutete auf eine Reihe kleiner Bilder, »das sind ihre Kinder. Das ist Samantha, das ist Robert und das Edward.« Dann deutete sie auf das Erkerfenster. »Dort drüben sind meine anderen Enkelkinder, die Kinder von Michael. Er ist mein Ältester, wissen Sie.« Sie hob zwei der Bilder hoch. »Und hier sind Geraldine und Justin.« Einige der Fotos zeigten Babys, andere Kleinkinder oder Teenager. Alle sahen gesund, glücklich und wohlgeraten aus, und ich murmelte Komplimente.
    Hetty lächelte und sagte: »Ja, ich liebe sie alle, Rabbi. Ich habe wirklich sehr viel Glück gehabt.«
    Wir unterhielten uns weiter über ihre Kinder - Michael, den Rechtsanwalt, und Rosemary, die Botanik studiert hatte und jetzt mit einem Verleger verheiratet war. Und über die Enkelkinder, darüber, wie gut sie sich entwickelten. Es waren nette kleine Gespräche über kleine Menschen auf kleinen Fotos. Als ich wieder im Büro war, notierte ich einige Namen auf eine Karte in meiner Datei und beließ es dabei.
    Im Lauf des nächsten Jahres besuchte ich Hetty noch zwei-, dreimal, und jedes Mal war es das Gleiche - es gab Tee und Kuchen und Gespräche über die Enkelkinder. Sie führte einen ordentlichen Haushalt, und die Kinder und Enkel auf den Fotos waren ebenfalls ordentlich. Bis eines Tages der Anruf kam, dass sie im St.-Joseph-Krankenhaus liege. Er kam in einer Woche, die voller Termine war, manche davon waren noch dazu Auswärtstermine, und bevor ich mich für eine Stunde freimachen konnte, um sie zu besuchen, war sie, verdammt noch mal, schon gestorben.
    Also war wieder eine Beerdigung zu organisieren. Als ich im Krankenhaus ankam, sagte mir die Stationsschwester, dass Mrs Simmonds viel über ihre Familie gesprochen habe, sie jedoch keine näheren Angaben in der Patientenkartei finde. Einen Tag später hatte immer noch keiner ihrer Angehörigen bei uns angerufen, deshalb ging ich ins Büro und bat meine Sekretärin Geraldine, mir die Telefonnummern der Familie aus den Akten zu suchen. Janet fand nicht viel - je älter die Gemeindemitglieder waren, desto weniger Unterlagen gab es von ihnen. Zu Hetty fanden wir verblasste Anmeldeformulare, einige Korrespondenz, aber weder einen traditionell üblichen hebräischen Vornamen noch eine Kopie von Übertrittszeugnissen. Die Kinder waren nicht erwähnt. Verdammt! Also rief ich Julie an, die damals den Sozialdienst für ältere Mitglieder leitete.
    »Julie? Hier ist der Rabbi. Wissen Sie vielleicht Genaueres über Hettys Familie? Nach meinen Notizen gibt es da einen Sohn Michael und eine Tochter Rosemary, aber ich habe keine Ahnung, wie ich mich mit ihnen in Verbindung setzen kann. In der Akte ist nichts zu finden.«
    Am anderen Ende der Leitung blieb es lange still, dann antwortete Julie ziemlich leise: »Rabbi, ich glaube, hier gibt es ein Missverständnis.«
    »Nein, ich habe Hetty einige Male besucht, und sie hat mir immer von ihren Kindern und Enkelkindern erzählt. Aber ich habe vergessen, sie zu fragen, wo sie genau wohnen.«
    »Rabbi, Sie verstehen mich nicht. Hören Sie, sind Sie in der schul? In zehn Minuten bin
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