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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht
Autoren: Heinz G. Konsalik
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hinweg. »Fliegeralarm!«
    Wie ein Schlag ging es durch die zusammengeduckten Gestalten. Ein Bruchteil der Sekunde zögerten sie, dann stürzten sie sich aus dem fahrenden Schlitten kopfüber seitlich in den Schnee, überschlugen sich, rollten den Hang hinab oder vergruben sich mit Beinen und Armen in den Verwehungen. Der nachfolgende zweite Schlitten bremste scharf, schleuderte zur Seite, drehte sich und brach von der Straße aus.
    »Ist der Schwabe verrückt geworden?« schrie Unteroffizier Plotzke. Er versuchte, seinen Schlitten wieder auf die Straße zu bringen. Der dritte und vierte Schlitten, weit zurück, bremsten, schleuderten, kamen aber zum Halten. Der junge Leutnant stand aufrecht neben den Handgranatenkästen und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. Niemand verstand ihn, aber man sah, daß er Kommandos brüllte.
    »Der macht 'ne Felddienstübung, der Vollidiot!« schrie Plotzke wieder. »Alle Mann in Deckung! Dem ist wohl das Gehirn vereist!«
    Die Jungen des ersten Schlittens wälzten sich im Schnee. Erich Schwabe hockte allein hinter seinem Steuer und preßte es nach links. Nur fünf Zentimeter dran vorbei, das reicht, dachte er. Ich könnte abspringen wie die anderen … aber wir brauchen den Schlitten! Jede Stunde kann der Mist da vorne wieder losgehen. Dann ist ein Schlitten vielleicht die letzte Rettung, die letzte Fahrkarte in die Heimat, in den Frieden, zu Ursula …
    Der Eispickel raste näher. Hüpfend jagte der Schlitten die Straße hinab. Schwabe bremste, aber nichts unter ihm griff mehr ins Eis. Die stählernen Zinken waren abgebrochen. Auch die Lenkung flatterte in Schwabes Händen, er drehte sie nach links, in wilder Verzweiflung und aus der Tiefe seiner Seele plötzlich aufschreiend. Aber der Schlitten raste geradeaus.
    'raus! schrie sich Schwabe zu. Jetzt 'raus! Er ließ das Lenkrad los, warf sich zur Seite und schnellte sich vom Führersitz. Halb aus dem Schlitten hängend, spürte er einen Widerstand an seinen Füßen. Er sah zurück und merkte, daß sich die weißen Tarnhosen am Pedal der Fußbremse festgehakt hatten. Verzweifelt zerrte und riß er an dem Hosenbein, der Stoff zerfetzte, noch einmal stemmte er den Fuß auf, um sich weit weg aus dem Schlitten zu schnellen …
    In dieser Sekunde, diesem letzten Wimpernzucken, sah er die kleine Eiserhebung vor sich, sein Blick wurde starr und gelähmt vor Entsetzen … weiter kam er nicht, zu keinem Gedanken, keinem Aufschrei, keiner Abwehr der Hände … um ihn brach die Erde auf, er roch noch das heiße, aufspritzende Benzin, es war ihm, als tauche man sein Gesicht in siedendes Öl, dann wußte er nichts mehr.
    Mit offenen Mündern lagen die Jungen im Schnee und sahen den Schlitten hoch in die Luft fliegen. Unteroffizier Plotzke reagierte schnell … er ließ seinen Schlitten einfach umkippen, indem er ihn rechtwinklig herumriß. Der junge Leutnant im Munitionsschlitten stand noch immer hochaufgerichtet, mit erhobenen Armen. Wie ein Standbild, das die Gnade des Himmels herabbeschwört auf eine Welt, die in Rauch und Feuer aufgeht.
    Dann sank die Explosionswolke zusammen. Nasser, klebriger Schnee, Erd- und Eisbrocken bedeckten in weitem Umkreis die Unglücksstelle. Dazwischen die Trümmer des Schlittens I, ein Haufen zerrissenes Metall und Holz.
    »Der … der Feldwebel …«, stotterte einer der Jungen. Er lag auf den Knien und hatte die Hände flach gegen die Brust gedrückt. »Schwabe war doch noch im Schlitten …«
    Sie sprangen auf und rannten zu den Trümmern. Von Schlitten II stolperten Unteroffizier Plotzke und seine Mannschaft die Straße hinab.
    »Der ist erledigt …«, stammelte Plotzke im Laufen. »Schwabe ist erledigt …«
    In seinen Augenwinkeln brannte es.
    Er stieß die jungen Ersatzsoldaten zur Seite, die verängstigt und ratlos herumstanden.
    »Dort ist er!« schrie einer grell. »Dort, unter dem Motor!«
    Plotzke warf sich in den Schnee. Er kroch an die blutige, mit Benzin und Öl übergossene Masse Mensch heran und schob seine Hand irgendwohin auf ein Stück nackte Haut.
    »Er atmet noch!« schrie er. »Hebt den Motor weg, ihr Flaschen! Alle Mann an den Motor …«
    Als sie Schwabe frei hatten, stand auch der Leutnant blaß neben den Trümmern. Die 57 jungen Soldaten, das Grauen in den Augen, umringten ihn. Nur Plotzke kniete noch neben der blutigen Gestalt im Schnee.
    Schwabe lag auf dem Rücken, den Kopf auf einem Brett, und alle sahen es: Er hatte kein Gesicht mehr. Dort, wo einmal Nase, Mund, Kinn und
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