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Der Winter tut den Fischen gut (German Edition)

Der Winter tut den Fischen gut (German Edition)

Titel: Der Winter tut den Fischen gut (German Edition)
Autoren: Anna Weidenholzer
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54 Der Spiegel
    Die Küchenuhr hängt links über dem Herd zwischen den Küchenkästen, der Zeiger gleitet die Zahlen entlang. Acht Uhr fünfundfünfzig, liest Maria, als sie an diesem Dienstagmorgen der Uhr gegenüber am Küchentisch sitzt. Maria trägt den hellblauen Frotteebademantel, den sie jeden Morgen trägt, außer im Sommer, wenn sie im Nachthemd frühstückt, weil es im Bademantel zu warm wäre, selbst an kalten Sommertagen. Am rechten Ellbogen ist der Stoff abgewetzt, auf die rechte Hand stützt Maria ihren Kopf, wenn sie nach dem Frühstücken Zeitung liest oder in die Luft schaut, Kaffee trinkt, frischem Kaffee beim Dampfen zusieht. Kaffee trinkt Maria mit Milch und ohne Zucker. Es ist einfacher, Kaffee ohne Milch zu trinken, sagte Herr Willert, wenn Maria in der Kaffeeküche Milch in ihre Tasse schüttete und beim Umrühren darauf achtete, ob die Milch zu Flocken wurde. Man braucht dann keine Milch zu kaufen, sagte er und verrührte die Milch langsam in seinem Kaffee, bevor er mit dem Daumen gegen den Süßstoffspender drückte und zwei Stück Süßstoff in die Tasse fielen. Maria denkt an Herrn Willert an diesem Dienstagmorgen in der Küche und trinkt einen kleinen Schluck, weil nicht mehr viel Kaffee in der Tasse ist und sie nicht möchte, dass die Tasse leer wird, dass sie aufstehen, dass sie neuen Kaffee holen muss, der immer drei Schlucke zu viel ist. Drei Schlucke, die Maria trotzdem trinkt, weil sie nicht möchte, dass etwas übrig bleibt.
    Das Fenster ist nicht weit vom Tisch entfernt, durch das Fenster sieht Maria in den Innenhof, der groß ist. Größer als ein Fußballfeld, sagte Walter und streckte dazu die Arme zur Seite. Im vorderen Teil haben wir unseren Gemüsegarten, im hinteren Teil spielen die Kinder; wir haben keine Kinder, wissen Sie das nicht. Die Sandkästen müssen abends abgedeckt werden, wegen der Katzen, die Fichte ist höher geworden, die Fichte hat das ganze Licht genommen und lässt es auch im Winter nicht durch.
    Unter ihrem Frotteebademantel trägt Maria ein Baumwollnachthemd. Baumwolle lässt die Haut gut atmen, etwas anderes würde Maria in der Nacht nicht tragen. An diesem Dienstagmorgen trinkt sie den letzten Schluck Kaffee, setzt die Tasse danach noch einmal an, bis ein kleiner Tropfen nachkommt. Dann geht sie ins Bad, das nur von der Küche aus zu erreichen ist, rosa Fliesen, eine Sitzbadewanne, das Waschbecken daneben. Das Badezimmer hat kein Fenster, Maria wechselt ab: Zuerst das Gesicht waschen, dann den Bademantel ausziehen. Sich kämmen, beim Scheitel die Haare auseinanderziehen, sich ärgern, dass sie schon wieder gefärbt werden müssen, das Nachthemd ausziehen, die Zähne putzen, die Unterhose ausziehen, das Gesicht eincremen, die Hausschuhe ausziehen, die Augen schminken, die Unterhose anziehen. Für weitere Kleidungsstücke fehlen die Zwischenschritte, und Maria zieht sich ohne Unterbrechung an.
Machen Sie konsequent, systematisch, parallel, schnell und viel
. Maria zieht an diesem Dienstagmorgen weiße Socken, weiße Unterwäsche, eine hellblaue Bluse und eine weiße Hose an.
    Der Spiegel hängt links neben der Eingangstür, rechts wäre kein Platz dafür. Rechts ist die Wand mit einem Schrank verbaut, darin die Jacken, die Taschen, die Wintermäntel. Der Schrank schließt bis oben hin zur Decke ab. Stauraum, sagten Maria und Walter, als sie den Schrank aussuchten, Stauraum ist wichtig. Darin hat alles seinen Platz, sagte der Verkäufer, und Maria schaute auf sein Hemd, der zweite Knopf von oben hatte sich geöffnet, oder war er schon die ganze Zeit über offen gestanden, und nickte. So kann man doch nicht verkaufen, sagte Maria später im Auto, als sie mit Walter nach Hause fuhr. Da hat sich einer zum Linksabbiegen rechts eingereiht, antwortete Walter. Beim Verkaufen muss man auf sein Auftreten achten, sagte Maria. Wie lange es noch dauern wird, bis er begriffen hat, dass er auf der falschen Seite steht, antwortete Walter und hupte. So kann man doch nicht verkaufen, sagte Maria. Doch, antwortete Walter, also doch.
    Der Rahmen des Spiegels ist golden, wie die Schlüssel, die in den Schranktüren stecken, nur dass bei den Schlüsseln das Gold an einigen Stellen abgegriffen ist. Maria schaut in den Spiegel, sie lächelt und ärgert sich über die Falten, die dabei entstehen, sie beschließt, nicht mehr zu lächeln, sie zieht die Bluse an den Oberarmen ein Stück hinunter. Kundinnen mit schlaffen Oberarmen ist von ärmelfreien Oberteilen abzuraten, sagte
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