Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Eissplitter peitschten Maus ins Gesicht. Noch immer kamen die Flocken von allen Seiten und wanderten mit den übrigen Eismassen vorwärts, sobald sie die Brücke berührten. Dort stärkten sie das andere Ende und verlängerten es nach Norden.
    Maus war entsetzlich kalt. Ausgerechnet jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich erkältet hatte. Sie schniefte und nieste und wünschte sich einen heißen Kräutertee.
    Vor ihr schälten sich Gestalten aus dem Schneetreiben. Sie konnte nicht auseinander halten, wer von ihnen Pallis, Rufus oder die Schneekönigin war. Das Rentier lief in gestrecktem Galopp, aber den drei Kontrahenten kam es nur ganz allmählich näher, so als wären auch Entfernungen, vielleicht gar die Zeit an diesem Ort außer Kraft gesetzt – zumindest jedoch kräftig durcheinander gewirbelt.
    Unter ihnen schnitt die Newa als grauweißes Band durch die Dächerlandschaft. Maus erkannte flüchtig die Peter-und-Pauls-Kathedrale auf der Haseninsel – sie kannte sie von einer Radierung im zweiten Stock –, dann die Giebel eines Viertels mit rechtwinkligen Straßen, drüben auf der Petrograder Seite. Schließlich den Stadtrand. Er war das Letzte, was sie dort unten sah, denn der Schnee begann jetzt noch stärker zu toben. Alles um sie herum war blendend weiß. Vom Boden aus musste das schwebende Brückenfragment nur als dichte Schneewolke zu erkennen sein.
    Ein grauenvoller Schrei ertönte, dann schlug eine unsichtbare Druckwelle in Maus’ Gesicht. Sie verlor ihren Halt auf Erlens Rücken, rutschte mit rudernden Armen über sein Hinterteil, landete im Schnee, überschlug sich zwei-, dreimal und blieb auf dem Bauch liegen. Kälte stach ihr wie Ameisengift in die Wange, und sogleich versuchte sie sich aufzurappeln, stolperte erneut, kam aber auf die Beine. Ihr linker Ellbogen tat weh, ein paar andere Stellen waren geprellt.
    Ein ganzes Stück vor ihr war das Rentier zum Stehen gekommen, blickte mit aufgerissenen Augen zu ihr zurück, dann wieder nach vorn. Die drei Gestalten waren jetzt wieder im Schneetreiben verschwunden.
    Der Schneeadler – Tamsin – kreischte auf, dann ertönten mehrere Stimmen durcheinander, von denen Maus nur Pallis’ wiedererkannte. Abermals schrillte der furchtbare Schrei, und diesmal konnte Maus ihn zuordnen: Die Schneekönigin hatte ihn ausgestoßen.
    Erlen bäumte sich auf, stand einen Moment lang auf den Hinterbeinen und sprang schließlich nach vorn. Auch er wurde jetzt eins mit dem Schneechaos. Der Adler war nirgends zu sehen, aber immer wieder hörte Maus das aufgeregte Krächzen.
    Eishagel mischte sich zwischen die fetten Schneeflocken. Ein Hagelkorn, groß wie ein Hühnerei, traf Maus an der Schulter. Ein zweites landete unweit von ihr und grub einen kopfgroßen Krater in den Schnee. Es spielte keine Rolle, ob sie hier stehen blieb oder weiterlief: Nirgends gab es eine Deckung. Ebenso gut konnte sie versuchen, Erlen wieder einzuholen.
    Sie hatte sich gerade auf den Weg gemacht, als sie spürte, dass die Wanderbewegungen des Bodens unter ihren Füßen wilder, die wellenförmigen Schübe der Oberfläche schneller wurden. Hinter ihr löste sich die Brücke auf, um weiter vorn neues Eis anzusetzen. Als Maus über die Schulter schaute, konnte sie trotz der tobenden Schneevorhänge den Abgrund erkennen, der sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf sie zufraß.
    Sie rannte schneller, aber sie fühlte, dass sie diesen Wettlauf verlieren würde. Unter ihr geriet der Boden immer stärker ins Rutschen, doch statt sie einfach mit sich nach vorn zu tragen, wellte und wogte er so heftig, dass sie erneut fast das Gleichgewicht verlor.
    »Tamsin!«, schrie sie. »Erlen!«
    Keinen von beiden konnte sie mehr erkennen, sah nur noch Weiß in Weiß, eine blendende Wand aus Helligkeit. Als sie panisch nach hinten blickte, entdeckte sie eine Schattierung: das Grau des Abgrunds, das sich rasend näherte und gierig nach ihren Füßen leckte.
    Sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, zu weich wurde der Untergrund, zu turbulent die Wellenbewegung des Schnees. Der Boden schien zu bocken und sich zu schütteln, und dann stürzte sie auch schon nach vorn aufs Gesicht, auf eine Oberfläche aus Schnee, die sich zappelnd unter ihr dahinschlängelte und nacheinander ihre Füße, ihre Hüfte, ihre Brust und ihren Kopf nach oben warf und wieder herabsacken ließ, wieder und wieder und wieder. Ihre Finger krallten sich in den Schnee, ohne genug Widerstand zu finden. Schon spürte sie unter ihren Knien
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher