Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
gen Süden dem Zarenreich entgegen, dorthin, wo er verschnaufen und sich selbst und den Zapfen verbergen konnte.
    Unterwegs verwandelte sich der Adler zurück in eine Frau mit blauem Haar, die ihre Reise auf einem Schlitten fortsetzte. Neben ihr standen ein Koffer und ein Regenschirm. Sie schaute noch immer nicht über ihre Schulter. Sie ahnte, dass sie verfolgt wurde.
    Ein weiter Weg.
    Eine seltsame Frau.
    Und der Beginn einer wundersamen Geschichte.
Das Kapitel, in dem die wahre Heldin dieser Erzählung noch gar nicht auftritt
    Sankt Petersburg, Hauptstadt des Zarenreiches 1893
     
    Der alte Mann saß auf einer Bank vor dem Winterpalais und fütterte die Schneeflocken.
    Neben ihm lag ein kleiner Lederbeutel, aus dem er dann und wann eine Hand voll silbrigen Staubes hervorzog und mit einem leisen, glücklichen Lachen vor sich in die Luft streute. Die wattigen Flocken, die seit Tagen ununterbrochen aus dem grauen Himmel fielen, schwärmten sogleich aus allen Richtungen herbei und ballten sich um die glitzernde Wolke. Wenn sie am Boden ankamen, war der Staub verschwunden. Die Schneeflocken hatten ihn aufgezehrt.
    Der Mann war groß und von bulliger Gestalt, trotz seines hohen Alters. Niemand hätte gewagt, den freien Platz neben ihm auf der Bank zu beanspruchen. Man sah nicht viel von seinen wettergegerbten Zügen, denn er verbarg sie hinter einem buschigen Vollbart, so hell wie der Schnee in der nördlichen Taiga. Seine Augen inmitten verwitterter Faltensterne strahlten in einem kristallenen Blau.
    Der Mann trug einen Mantel aus Bärenfell und eine mit Schnee gepuderte Mütze, doch schien er auf beides kaum Wert zu legen: Der Mantel stand offen, die Kopfbedeckung war nachlässig verrutscht. Die Kälte konnte ihm nichts anhaben.
    »Guten Tag, Väterchen Frost.«
    Der Mann blickte auf. Für einen Augenblick schwand sein Lächeln, weil jemand es wagte, ihn bei der Fütterung der Flocken zu stören. Dann aber erkannte er die Frau, die ihn angesprochen hatte. Sein Lächeln kehrte zurück.
    »Lady Spellwell?«, fragte er. »Tamsin Spellwell?«
    Eine Frau war aus dem Schneetreiben getreten wie ein kunterbuntes Gespenst. Ihr zinnoberfarbener Mantel reichte bis zum Boden. Die Schuhe, die darunter hervorschauten, waren spitz wie Stoßzähne – und violett lackiert. Auf dem Kopf trug sie einen viel zu großen Zylinder aus Filz, zusammengeschoben wie eine Ziehharmonika, als hätte jemand darauf gesessen. Ein farbenfroher Schal war mehrfach um ihren Hals geschlungen und dennoch so lang, dass die Enden fast bis zum Boden baumelten.
    Regenbogenbunt war auch der geschlossene Regenschirm, den sie in einer Hand hielt. In der anderen trug sie einen abgegriffenen Lederkoffer.
    Vor der Bank blieb sie stehen und deutete mit einem Nicken auf den freien Platz, »Darf ich?«
    Väterchen Frost verschloss den Beutel und ließ ihn unter seinem Mantel verschwinden. »Es ist lange her, seit es jemand gewagt hat, sich neben mich zu setzen.«
    Tamsin nahm Platz, schob den Regenschirm durch den Griff des Koffers und stellte beides neben sich auf eine Schneewehe. Dann legte sie ihre Hände mit den klobigen Fausthandschuhen in den Schoß. Unter ihrer verbeulten Hutkrempe lugten ein paar veilchenblaue Locken hervor wie die Spitzen exotischer Vogelfedern.
    »Wissen diese Menschen, wer du bist?« Sie deutete auf die wenigen Fußgänger, die bei diesem Wetter mit tief gesenkten Gesichtern den Platz vor dem Palais überquerten. Hinter Vorhängen aus Schnee glitten Pferdeschlitten vorüber. Niemand nahm Notiz von den beiden sonderbaren Gestalten auf der Bank.
    Der bärenhafte Alte schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Sie spüren etwas, das sie von mir fern hält. Aber sie erkennen die Wahrheit nicht. Einst war das anders.«
    Tamsin glaubte, den Geruch von Wodka in seinem Atem zu riechen. Dunkle Zeiten, dachte sie, wenn selbst der Herr des russischen Winters der Vergangenheit nachtrauert.
    »Danke, dass du meinen Ruf erhört hast«, sagte sie.
    »Dein Vater war ein Freund.« Väterchen Frost zögerte kurz. »Es tut mir Leid, was geschehen ist.«
    Sie wollte nicht über das Ende ihres Vaters sprechen. Seit dem Tode Master Spellwells war noch nicht genug Zeit verstrichen. »Wie lange schneit es schon so stark?«
    Väterchen Frost blickte zum Himmel. »Seit ein paar Tagen. Und bevor du fragst: Nein, ich habe nichts damit zu tun. Und ich kann es nicht ändern.«
    Sie fluchte leise. Ihr fiel nur ein einziger Grund ein, warum Sankt Petersburg von solchen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher