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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
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Hotels. Jede Nacht zog er allein seine Runden durch das Aurora, genau wie Maus, und niemand wusste, wie sein wirklicher Name lautete.
    Er war groß – fast doppelt so hoch wie Maus –, und seine Schultern schienen ihr so breit wie der Korridor zu sein. Seine Hände waren wie Schaufeln und offenkundig nur dazu gemacht, Dieben wie ihr den Kopf abzureißen. Er hatte ein flaches Riesengesicht, dessen Wangenknochen so weit auseinander lagen, dass Maus sie von nahem nur aus beiden Augenwinkeln sah: Seine groben, wie aus Fels gehauenen Züge nahmen ihr gesamtes Blickfeld ein.
    »Maus«, sagte er abermals, und jetzt klang es noch bedrohlicher.
    »Lassen Sie mich los!« Sie versuchte, mit den Füßen nach ihm zu treten, und kam sich trotz ihrer Angst ein wenig albern vor. Eine Mücke hätte ihm kaum weniger gefährlich werden können.
    Tatsächlich setzte er sie nach einem weiteren unergründlichen Blick am Boden ab, hielt sie aber mit der linken Hand am Arm fest, während seine Rechte begann, ihre Uniform abzutasten.
    »Die Taschen«, sagte er.
    Im Grunde war sie ganz froh, dass er sie festhielt. Wer weiß, ob ihre zitternden Knie sie aus eigener Kraft getragen hätten.
    »Taschen«, brummte er abermals.
    Erst nach einem Augenblick verstand sie, was er von ihr wollte. Es war ein bisschen so, als versuchte sie, die Grunzlaute eines Tieres zu entschlüsseln.
    Mit bebenden Fingern stülpte sie das Innenleben ihrer Hosentaschen nach außen. Aus einer fiel eine Haselnuss. Das war alles.
    Der Rundenmann hob eine Augenbraue.
    »Da ist sonst nichts«, sagte sie spitz, weil sie sich erinnerte, dass Angriff angeblich die beste Verteidigung war. Aber wer immer sich diesen Spruch ausgedacht hatte, er hatte es vermutlich in der behaglichen Sicherheit eines Ohrensessels getan, nicht in einem Augenblick höchster Not.
    »Hmm?«, grummelte er und beugte sich bedrohlich vor. Ihr wurde ganz schwindelig beim Anblick dieses Menschenturms.
    »Ich hab nichts geklaut«, sagte sie beharrlich.
    Das war dumm, durchfuhr es sie. Er hat dir ja nicht mal vorgeworfen, etwas gestohlen zu haben. Nun weiß er, dass du ein schlechtes Gewissen hast.
    Das Gefährliche am Rundenmann war nicht so sehr seine Größe und Kraft. Vielmehr war es die Tatsache, dass man ihn unterschätzte. Sicher, er war riesig und konnte einen jederzeit mit einem Schlag ins Jenseits befördern. Aber zugleich wirkte er in seiner Einsilbigkeit unbeholfen wie ein zu groß geratenes Kind – und Maus wurde den Verdacht nicht los, dass er diesen Eindruck mit voller Absicht erzeugte. Insgeheim, und davon war sie überzeugt, besaß der Rundenmann eine messerscharfe Schläue. Wenn er wollte, konnte er sich trotz seiner kolossalen Gestalt lautlos wie eine Katze bewegen. Oft stand er gerade dann unverhofft hinter einem, wenn man am wenigsten mit ihm rechnete. Nicht zu vergessen jene Augenblicke, wenn er an mehreren Orten zugleich zu sein schien. Und auch wenn er selbst gar nicht anwesend war – seine Augen und Ohren waren allgegenwärtig.
    In seinen Blicken las sie die Gewissheit, dass sie die Brosche gestohlen hatte. Er wusste es, woher auch immer.
    Kukuschka hatte Maus erzählt, dass manch einer im Hotel den Verdacht hegte, der Rundenmann arbeite als Spitzel für die Geheimpolizei. Das war ein Gerücht, dem Maus nur allzu gern Glauben schenkte. Die Männer und Frauen der Geheimpolizei waren im ganzen Zarenreich wegen ihrer Heimtücke und Grausamkeit verhasst. Dass ausgerechnet Maus’ Erzfeind einer von ihnen sein sollte, schien ihr so nahe liegend, dass sie sich damals gewundert hatte, nicht von selbst darauf gekommen zu sein. Ein Spitzel! Natürlich!
    Und dieses Ungetüm von einem Mann, dieser hinterlistige Verräter, hatte sie zu seinem persönlichen Lieblingsopfer erkoren. Maus, die keinen anderen Namen als diesen besaß; die hier im Hotel geboren war und es seither nicht verlassen hatte; die alle nur den Mädchenjungen nannten, weil ihr Körper so mager und ihr Haar raspelkurz war; ausgerechnet sie hatte seinen Zorn und sein allwissendes Auge auf sich gezogen.
    Sie war erledigt. Hatte sie wirklich geglaubt, ihn hereinlegen zu können, indem sie ihr Diebesgut in einem Schuh versteckte?
    Sie schloss die Augen und wartete auf das, was als Nächstes geschähe.
    Der Druck seiner Hand auf ihren Oberarm ließ nach. Ganz kurz beschlich sie die Hoffnung, dass er fort sein könnte, wenn sie die Augen aufschlug, so wie irgendein Hirngespinst.
    Aber natürlich war er nicht fort. Er stand da und
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