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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
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starrte sie an. Vollkommen reglos, die Züge so starr wie aus Lehm geknetet.
    »Ich beobachte dich«, flüsterte er.
    Sie nickte unbeholfen.
    »Und ich weiß immer, was du tust.«
    Da wurde sie von solch einem Schauder geschüttelt, dass sie sich instinktiv herumwarf und floh. Sie rannte zurück um die Ecke, den langen, eiskalten Flur hinunter und an der Zarensuite vorbei, ohne einen zweiten Blick auf die Schuhe zu werfen. Sie konnte später wiederkommen und sie zum Putzen abholen.
    Der Rundenmann blieb hinter der Biegung zurück, aber sie erkannte an seinem Schatten, dass er noch immer dort stand, abwartend, bewegungslos. Vielleicht war es auch nur sein Schatten, und er selbst war längst anderswo.
    Ich beobachte dich.
    Sie glaubte ihm aufs Wort.
    Um noch eine Ecke fegte sie, an holzgetäfelten Wänden vorüber, unter Kronleuchtern hinweg, an denen Diademe aus Glassteinen klirrten im Luftzug ihrer Flucht.
    Ich weiß immer, was du tust.
    Ihr war sterbenselend, als sie endlich den vergitterten Lift erreichte.
    »Hallo, Maus!«
Das Kapitel über einen Verrat und die Schrecken der Außenwelt
    Maxim, der Liftjunge, stand in seiner Kabine, eine Hand am offenen Schiebegitter, die andere an dem langen Hebel, der den Aufzug auf seine Reise durch die Stockwerke schickte. Er lächelte Maus entgegen.
    Sie blieb einige Schritte vor ihm stehen. Das Innere der Kabine war mit poliertem Messing, Gold und Spiegeln ausgekleidet. Elektrisches Licht erfüllte den engen Kasten mit dem Schein eines ewigen Sonnenuntergangs. Sein Glanz floss aus dem Inneren des Lifts auf den Gang und berührte Maus’ Fußspitzen.
    Maxim blickte an ihr vorbei durch den Korridor. »Wo ist dein Schuhwagen?«
    Seltsam, dass er danach fragte. Die Liftjungen hassten es, wenn Maus mit dem klobigen Karren ihre Kabine belegte. Maus selbst nahm den Geruch der Schuhe längst nicht mehr wahr, aber die Jungen behaupteten, im Lift würde es noch eine Stunde später nach Schweiß und Leder stinken. Ärgerlicherweise gab es nur diesen einen Aufzug im Hotel, und mit dem Wagen die Treppen zu benutzen, war unmöglich. Tatsächlich war dies der erste Fahrstuhl seiner Art in ganz Russland, importiert aus Amerika, wo die neue Technik von einem Mann namens Otis entwickelt worden war. Die Direktion des Aurora war ungeheuer stolz darauf.
    Maxim war nicht irgendein Liftjunge. Mit seinen sechzehn Jahren war er der älteste und erfahrenste unter ihnen. Der geborene Anführer. Und hübsch außerdem. Maus war einmal heimlich in ihn verliebt gewesen – bis zu dem Tag, als sie beobachtet hatte, wie er sich für ein paar Kopeken vom reichen Töchterchen eines Hotelgastes küssen ließ.
    »Also?«, fragte er.
    Sie suchte vergeblich nach Spott oder Hinterlist in seinem Tonfall. Womöglich wollte er wirklich nur freundlich sein.
    »Also was?«, fragte sie spröde.
    »Dein Wagen.«
    »Oh, der … Ich hab ihn eine Etage tiefer stehen lassen.«
    »Soll ich dich runterfahren?« Alle Liftjungen waren ungemein stolz auf ihre Aufgabe, beinahe als würden sie die Gitterkabine auf eigenen Schultern durch die Stockwerke tragen. Außerdem hatten sie die schönsten Uniformen. Ganz samtig rot und mit demselben Goldimitat besetzt, das ihre Kabine schmückte. Im Lift verschmolzen sie vollends mit der blitzenden, spiegelnden Umgebung. Meine Goldjungen, nannte sie der Concierge, dessen Lieblinge sie waren. Aber Maxim war jedermanns Liebling.
    »Ich nehm lieber die Treppe«, sagte Maus und wollte sich abwenden.
    »Nun komm schon rein. Mitten in der Nacht fährt eh keiner mit dem Lift. Mir ist langweilig.«
    Und daran sollte ausgerechnet sie etwas ändern? Maxim hatte ihr niemals mehr Beachtung geschenkt als einem schmutzigen Fußabdruck, den ein Gast in seinem Aufzug hinterlassen hatte.
    Vorsichtig ging sie auf die Kabine zu und trat damit vollends in den goldenen Lichtschein. Aus irgendeinem albernen Grund kam sie sich plötzlich wie ein richtiges Mädchen vor, so als machte das überirdische Licht diesmal nicht nur den Liftjungen, sondern auch sie selbst viel schöner.
    »Vierter Stock?«, fragte Maxim und nahm mit der Hand am Hebel Haltung an, so als hätte der Zar persönlich seinen Aufzug betreten.
    Maus zögerte kurz, schaute sich ein letztes Mal auf dem verlassenen Korridor um, dann trat sie über den schmalen Spalt ins Innere der Kabine. Ihr wurde ein wenig schwindelig, als ihre Füße trotz des Teppichs einen leisen, hohlen Laut erzeugten. Die Gewissheit des tiefen schwarzen Schachts unter ihr
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