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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
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Seufzer aus, wie ein Erwachsener, der zu einem uneinsichtigen Kind spricht. »Dieser plötzliche Wintereinbruch, all der Schnee, diese Kälte … es hat mit ihr zu tun.«
    »Und?«
    »Du glaubst, sie bringt das alles mit sich, wie eine Schleppe aus Winterwetter, nicht wahr? Aber so einfach ist es nicht. Das hier ist eine andere Art von Kälte. Und nur ein Vorgeschmack.«
    Tamsin blickte ihn fragend an.
    »Seit du ihr den Herzzapfen gestohlen hast, schwindet ihre Macht«, fuhr er fort. »Die Kälte des Anbeginns, die vor der Welt da war, fließt aus der Königin heraus und beansprucht den Platz zurück, der einst ihr gehört hat.«
    »Dann wird es schlimmer werden?«
    »Viel schlimmer«, sagte er düster. »Nur wenn die Königin den Zapfen zurückbekommt und ihre alte Macht wieder herstellt, kann sie die Kälte in ihre Schranken weisen. Anderenfalls droht uns ein Winter, wie es noch keinen gegeben hat. Nicht einmal ich würde das lange überstehen.«
    »Wie viel Zeit bleibt mir?«
    »Um den Zapfen zurückzugeben und die Kälte aufzuhalten? Oder um die Königin zu vernichten?«
    »Wie viel Zeit?«
    »Ein paar Tage. Allerhöchstens.«
    Tamsins Hand schloss sich fester um den regenbogenbunten Regenschirm. In ihrem zerbeulten Koffer bewegte sich etwas, rumorte ganz sachte.
    »Ich danke dir«, sagte sie und ging.
    Väterchen Frost zog traurig den Beutel hervor und fuhr fort, die Flocken mit vergessenem Zauber zu füttern.
Das Kapitel, in dem wir dem Mädchenjungen Maus begegnen. Und dem gefährlichen Rundenmann
    Wahr ist, dass Maus ein Mädchen war. Aber das wussten nur wenige. Die meisten hielten sie für einen Jungen. Und wenn Maus in einen Spiegel blickte, glaubte sie das manchmal sogar selbst.
    Wahr ist auch, dass sie eine Diebin war. Wie von tausend Teufeln gehetzt, rannte sie durch die Korridore des ehrwürdigen Grandhotels Aurora. Der Mann, der sie verfolgte, war ihr dicht auf den Fersen. Kein guter Tag für Hotelzimmerdiebe. Nicht einmal dann, wenn sie ihre Diebereien mit so großem Geschick begingen wie Maus.
    Die obere Etage des Hotels Aurora war für besondere Gäste reserviert. Nach vorn zum Boulevard hin, dem berühmten Newski Prospekt, lag die prunkvolle Zarensuite; eine Übernachtung darin kostete mehr, als Petersburgs einfache Bürger in einem Jahr verdienten. Maus eilte flink unter silbernen Leuchtern dahin, die elektrisches Licht verströmten. Die Spucknäpfe in den Ecken waren aus feinstem Porzellan. An den Wänden der Korridore standen schwere Kommoden aus Mahagoni. Spitzendeckchen flatterten im Zugwind, als Maus an ihnen vorüberjagte.
    Manchmal blickte sie über ihre Schulter, um zu sehen, ob ihr Verfolger schon aufgeholt hatte. Aber noch hielt sie ihren Vorsprung. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihm entkäme.
    Maus trug eine Pagenuniform, die an mehreren Stellen geflickt war, wenn auch nicht so sehr, dass es einer der hoch geschätzten Gäste auf den ersten Blick bemerkt hätte. Hose und Jacke waren aus violettem Samt, besetzt mit schimmernden Schnallen und selbst genähten Schulterstücken aus goldenen Teppichfransen. Ihre Lackschuhe waren makellos geputzt – denn das war eine von Maus’ Aufgaben hier im Hotel Aurora: nachts die Schuhe aller Gäste vor den Türen einsammeln, sie in den Keller bringen, dort allesamt auf Hochglanz polieren und vor dem Morgengrauen wieder vor den Zimmern verteilen. Ohne ein einziges Paar zu vertauschen, versteht sich.
    Dazu gehöre Talent, behauptete Kukuschka, der Eintänzer im Ballsaal. Dazu gehöre gar nichts, sagte Maus. Nur die Bereitschaft, nachts auf den Beinen zu sein und am Tag zu schlafen. Und nicht einmal das war eine Leistung, wenn einem keine andere Wahl blieb.
    Die Schritte in Maus’ Rücken wurden lauter.
    Gab es einen besonderen Grund, weshalb sie nach all den Jahren gerade heute erwischt werden sollte? Sie hatte am Abend ihren Teller mit dem, was die Gäste übrig ließen, leer gegessen und die Hänseleien der übrigen Pagen und Zimmermädchen stumm über sich ergehen lassen; sie hatte so getan, als würde sie nicht hören, dass sie alle über sie sprachen, und das nicht einmal heimlich. »Mädchenjunge«, lästerten sie. »Da geht der Mädchenjunge und stinkt nach alten Schuhen.«
    All das hatte sie wie jeden Tag ertragen. Sie hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen, wirklich nicht.
    Außer vielleicht diesen winzigen Diebstahl. Nicht ihr erster, keineswegs, aber sie war ja auch bislang immer davongekommen.
    Wieder schaute sie nach
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