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Post von Madelaine

Post von Madelaine

Titel: Post von Madelaine
Autoren: Susanna Ernst
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Post von Madelaine
    Post von Madelaine
    An Tagen wie diesem - wenn die Sonne nichts gegen die dichte, graue Wolkendecke auszurichten vermochte und der Wind so energisch durch das Weizenfeld vor dem alten Natursteinhaus peitschte, dass die Vögel nicht mehr zu zwitschern wagten - spürte Madelaine es deutlich: Genau so musste das Wetter am Tag ihrer Geburt gewesen sein.
Und dieser Gedanke, der eigentlich nur eine Vermutung sein konnte, eigenartigerweise jedoch einer Gewissheit glich, führte unwillkürlich zu dem einzigen, alles entscheidenden Trost ihres Lebens: Ihre Eltern - wo auch immer sie sein mochten - dachten auch an diesen Tag zurück, wenn der Wind um ihre Wände pfiff.
Das wusste Madelaine!
Sie war eines von 24 Kindern, die im Saint-Teresien-Kinderheim in Cœur de Jolie, einem winzigen Dorf, weit vor Dijon, lebten. Das Mädchen hatte seine Eltern nie kennengelernt. Es wusste weder, wie sie aussahen, noch, wie alt sie waren oder wie sie hießen. Madelaine wusste nicht einmal, ob sie ihren eigenen Namen von den beiden erhalten hatte.
Sie war zehn Jahre, einen Monat und neun Tage alt. Und beinahe genauso lange lebte sie in dem großen Haus, mitten im Nichts. Es war ein alter Bauernhof, der gemeinschaftlich von den Glaubensschwestern des nahe gelegenen Klosters geführt wurde. Sie waren Selbstversorger, was bedeutete, dass die Kinder bei der Bestellung der Felder und der Verpflegung der Tiere kräftig mit anpacken mussten.
Dafür trank jeder von ihnen täglich einen halben Liter frische Milch, und sonntags aßen sie Braten. Die Kinder des Heims waren ausgesprochen gesund und kräftig; körperlich fehlte es ihnen an nichts. Die kleinen Seelen hingegen waren oftmals tief verletzt. Rangeleien und Streit waren an der Tagesordnung, und die Schwestern griffen nur im Ausnahmefall ein. Unter den Kindern regierte das rauhe Gesetz des Stärkeren; die Hierarchie wechselte von Zeit zu Zeit, doch unten blieb meist alles unverändert. Dort, im Sockel der Rangordnung, hatte auch das zierliche Mädchen mit den großen, wasserblauen Augen seinen Platz gefunden.
Madelaine war ein sehr ruhiges, unscheinbares Kind, das auf Fremde regelrecht verklemmt wirkte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie bislang nicht vermittelt worden war. Weder die Paare, die von Zeit zu Zeit aufkreuzten und für die Aufnahme eines Kindes vorsprachen, noch die Schwestern des Heims schienen an der Vermittlung des stillen Mädchens ernsthaft interessiert zu sein. Und Maddie, wie sie liebevoll genannt wurde, war es zufrieden. Sie wollte nicht weggeschickt werden.
Alle bemühten sich, die Quertreiber des Heims möglichst schnell in Pflegefamilien unterzubringen. Auf das schüchterne Mädchen hingegen, das kaum einer beachtete, kam in all diesen Jahren nicht ein Mal die Sprache.
Seitdem sie denken konnte, hatte Maddie keinen einzigen Tag außerhalb von Cœur de Jolie verbracht. Sie lief an jedem Wochentag einen halben Kilometer zur Schule und wieder zurück, erledigte ab und zu kleinere Besorgungen im alten Laden von Madame Solaie, und sonntags begleitete sie die Schwestern oft in die Kirche am alten Kloster.
Wann immer sie zwischendurch einige Minuten Freizeit erhaschen konnte, lief Madelaine in das gewaltige Weizenfeld, das sich vor dem Kinderheim erstreckte, legte sich mitten hinein und bestaunte den Himmel. Das Zirpen der Grillen erschien ihr in der schönsten Farbe von allen - einem leuchtenden, schimmernden Orange. Es war Madelaines Geheimnis: Sie sah zu jedem Geräusch, das tief in ihr Bewusstsein drang, eine ganz bestimmte Farbe.
Und so verstrich ihr kleines Leben. Unauffällig und geradlinig, mit nur wenigen Höhepunkten und Tiefschlägen. Stunde um Stunde, Tag für Tag.
Die Schwestern, die die innere Ruhe des Kindes fälschlicherweise als Glück deuteten, schlossen das Mädchen tief in ihre Herzen und nahmen es gerne mit zur heiligen Messe. Denn aus diesem geduldigen Wesen würde eines Tages sicherlich eine wunderbare Glaubensschwester werden, die ihr Leben im Heim dann mit einer Berufung verknüpfen könnte. Niemand schien in Frage zu stellen, dass Maddie genau da war, wo sie hingehörte.
Nur die Kleine selbst war der festen Überzeugung, alles würde anders kommen.
Sie wusste, so sicher sie sich war, an einem stürmischen Tag geboren zu sein, dass ihre Eltern sie finden und wieder zu sich nehmen würden. Sie wusste, dass sich ihre Mutter und ihr Vater geliebt hatten, dass sie ein gewolltes Kind war und dass eines Tages alles gut werden
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