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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
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hinten. Der schwere Teppichboden verschluckte die Schritte ihres Verfolgers fast vollständig. Maus zog die goldene Brosche aus der Uniformtasche und umschloss sie fest mit der Faust. Die Tür des Zimmers war unverschlossen gewesen – nicht ihr Fehler, oder? –, und die Brosche hatte offen auf einem Haufen Kleider gelegen. Dabei wurde doch allerorts vor Dieben gewarnt, gerade in solch schlechten Zeiten. Hätte die Besitzerin nicht besser Acht geben können?
    Nein, Maus traf nun wahrlich keine Schuld. Sie hatte nur die Einladung angenommen, das Ding in ihre Tasche zu stecken. Und passiert ist nun mal passiert. Verzeihung, gnädige Frau.
    Es war eine Frage der Ehre, ihr Beutestück zu all den anderen im Keller zu bringen. Später jedenfalls. Vorerst musste sie das Ding loswerden. Und zwar an einem Ort, an den niemand sonst seine Nase steckte. Erst einmal weg damit, sodass es keiner bei ihr finden konnte. Schon gar nicht der Rundenmann, der seit einer Ewigkeit darauf aus war, sie auf frischer Tat zu ertappen. Keine Beweise, kein Diebstahl. Keine Strafe für Maus.
    Der Gang lag schier endlos vor ihr und war nur mit zwei einsamen Kommoden möbliert. Alle Schubladen waren zugeleimt. Die einzige Tür im ganzen Korridor führte zur Zarensuite. Es gab einen Spucknapf, sogar mit Goldrand, aber das war ein miserables Versteck.
    Maus schwitzte, und das nicht nur vom Rennen. Allmählich wurde die Lage ernst. Der Rundenmann versuchte schon lange, sie zu überführen. Er würde sie am Schlafittchen durch die Korridore zerren und triumphierend dem Concierge in der Eingangshalle präsentieren: »Hier, eine Diebin! Der Mädchenjunge!« Und dann, ja dann würde man sie aus dem Hotel werfen, hinaus in die Kälte der russischen Winternacht. Ohne einen Ort, an dem sie unterkriechen konnte. Ohne eine einzige Kopeke, um davon ein Stück Brot oder heißen Tee zu kaufen.
    Ganz zu schweigen von dem anderen, das sie dort draußen umbringen würde.
    Maus musste handeln. Schleunigst. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, die Brosche zu verschlucken. Aber das Ding war größer als ihr Daumen und wurde mit einer Anstecknadel befestigt. Keine gute Idee.
    Sie hatte ein Drittel des Korridors hinter sich gebracht, als der Schatten des Rundenmanns an der letzten Biegung auftauchte. Der Eingang der Zarensuite, genau in der Mitte des Flurs, war ein prachtvolles Portal, mit kunstvollen Säulen zu beiden Seiten und dem Relief eines brüllenden Bären oberhalb der Tür.
    Davor standen zwei Paar Schuhe.
    Bis hierher war Maus auf ihrer heutigen Sammeltour noch nicht gekommen. Ihr Wägen, auf dem sie die Schuhe der Gäste – oft hundert Paar und mehr pro Nacht – durch die Gänge schob, stand eine Etage tiefer.
    Maus war seit mehreren Jahren für die Schuhe der Hotelgäste zuständig. Sie kannte sich aus mit Formen, Größen, Ledersorten. Doch solch merkwürdige Exemplare hatte sie in ihrem Leben noch nicht gesehen.
    Das eine Paar waren zwei kostbare Damenschuhe, sehr filigran gearbeitet, mit hohen Hacken und aus einem Material, das wie Kristall aussah.
    In schroffem Gegensatz dazu stand das andere Paar. Zwei alte Lederschuhe, flach und schmucklos, wie die Straßenjungen sie trugen, die am Kücheneingang um Essensreste bettelten. Das Seltsame daran war ihr Zustand – sie sahen aus, als hätte ein Tier darauf herumgekaut, nachdem sie ungefähr ein Jahr lang bei Wind und Wetter im Wald gelegen hatten.
    Maus blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Einer Eingebung folgend stopfte sie die Brosche in einen der beiden zerlumpten Lederschuhe – etwas warnte sie davor, das Kristallpaar zu berühren –, bevor sie sich nach ihrem Verfolger umblickte. Der Rundenmann war noch immer nicht in Sichtweite. Einen Augenblick lang bekam sie eine Gänsehaut, und erst in dem Moment wurde ihr bewusst, wie ungewöhnlich kalt es hier war. So als läge hinter der Tür keine beheizte Suite, sondern der zugeschneite Boulevard mit seinen tanzenden Windhosen aus Eiskristallen.
    Sie sprang auf und rannte weiter, ließ Zarensuite, Schuhe und Brosche hinter sich. Sie erreichte die nächste Ecke, wollte schon aufatmen – Und lief dem Rundenmann geradewegs in die Arme.
    Er packte sie unter den Achseln, hob sie mühelos vom Boden und wartete, bis sie aufgehört hatte zu strampeln. Ihr Gesicht war nun auf einer Höhe mit seinem.
    »Maus«, sagte er nur. Die Art und Weise, wie er ihren Namen betonte, legte nahe, dass nun ihr letztes Stündlein geschlagen hatte.
    Er war der Wachmann des
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