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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
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Prolog
    Wo Nacht und Norden enden, liegt über Nebeln die Feste der Schneekönigin. Niemand hat ihr eisiges Reich je vermessen. Keiner geht ohne guten Grund dorthin. Und kaum jemand ahnt, dass ihr Palast auch heute noch dort steht, auf der letzten und höchsten aller Klippen, wo Stein und Eis zu Ewigkeit verschmelzen.
    Die Schneekönigin ist alt, aber keiner weiß, wann sie zum ersten Mal die eiskalten Öden durchstreifte. Aus Wind und Frost und Zauber erbaute sie ihren Palast, und noch heute winseln die Stürme um Gnade, wenn sie sich in den endlosen Gängen und Hallen verirren. Schnee treibt durch die verwinkelten Kammern, ohne jemals den Himmel zu sehen. Und selbst das Sternenlicht des Anbeginns ist hier eingeschlossen, in Türmen aus Eiskristall und in den tödlichen Augen der Königin.
     
    *
     
    Vor Jahren, die heute wie viele erscheinen, in Wahrheit aber nur ein Blinzeln in der Lebensspanne des Palastes bedeuten jagte ein Schneeadler durch das Labyrinth der Säle und Klüfte. Er war kein gewöhnlicher Adler, aber das wussten nur er selbst und jene eine, deren hasserfüllter Blick ihm folgte. Er hatte gestohlen, was ihr das Teuerste war.
    In seinen Krallen, überzogen von glitzerndem Raureif, trug er einen Zapfen aus Eis – einen Zapfen vom Herzen der Schneekönigin.
    Wer so alt und kalt und schlau ist wie die Herrin des Nordlandes, der trägt sein Herz nicht in der Brust. Ein Herz kann selbst die schwärzeste Seele wärmen – manchmal, wenn sogar die Schlechtesten nicht damit rechnen –, und auch jenes der Königin hätte wohl dann und wann Freude empfunden oder in einem seltenen Glücksmoment schneller geschlagen.
    All dem aber hatte die Königin vorgebeugt. In ihr war stets nur Kälte gewesen. Schon vor vielen Zeitaltern hatte sie sich das Herz aus der Brust gepflückt und bewahrte es seither in einer Kammer ihres Palastes auf, unbehelligt von menschlicher oder magischer Regung.
    Niemandem war es je gelungen, einen Blick darauf zu werfen – bis zu jenem Tag, an dem der Schneeadler durch einen Spalt im Eis der Feste flog, sich auf dem Herzen der Königin niederließ und einen Zapfen davon abbrach. Der Schmerz, den dieser Diebstahl ihr verursachte, war rasch verflogen. Doch im selben Moment, da der Zapfen von ihrem Herzen splitterte, verlor sie einen Großteil ihrer Macht. Selbst ein Wesen wie sie hat eine schwache Stelle, und diese war, wie sie nun erkannte, ihr eigenes eisiges Herz.
    Sogleich rief sie ihre grausamen Diener herbei, um den Adler einzufangen und den Zapfen zurück an seinen Platz zu bringen. Aber auch sie bekamen den Vogel nicht zu fassen.
    Mit ausgebreiteten Schwingen fegte er durch die Hallen und verschlungenen Gänge. Manches Mal erschrak er, wenn sein Spiegelbild auf blankem Eis an ihm vorüberhuschte oder wenn Lawinen aus Schnee durch die Korridore tobten und mit Kristallkrallen nach ihm schlugen.
    Endlich aber fand der Adler zurück zu dem Spalt, durch den er in das Allerheiligste der Königin eingedrungen war, und mit ihm entkamen die gefangenen Stürme hinaus in die Freiheit der Nordlandödnis.
    Nebel wogte um die Steilwand aus Eis, die unter ihm mit dem Rand der Klippe verschmolz. Tiefer hinab konnten selbst seine Adleraugen nicht spähen: Was immer von jenseits der Nacht gegen die Felsen brandete, ein Meer war es nicht. Vielleicht das Ende der Welt; oder ein Rest von dem, was vor ihr war; oder gar das, was noch kommen mochte, nach dem Abschied aller Tage.
    Der Schneeadler schlug einen Haken und glitt landeinwärts, getragen von den entfesselten Winden, die ihn aus Freude über ihre Freiheit schneller über die weiße Wüste trugen als je einen anderen Vogel zuvor.
    Am Boden blieben die verschneiten Dächer einer Stadt zurück, die sich an die Felsen der Festung krallte, gekrümmt, gebuckelt, in Demut und Furcht vor der Herrin. Der Adler wusste, dass ihn Augen von dort unten beobachteten, verborgen im Schatten dicker Fellkapuzen, Menschen, die wussten, was er getan hatte, und dankbar dafür waren.
    Pfeilschnell schoss er über die gefrorene Einöde. Einmal glaubte er, einen furchtbaren Aufschrei hinter sich zu hören, halb wahnsinnig vor Zorn und Rachsucht. Aber er blickte nicht zurück zum Schloss, denn er fürchtete, das Gesicht der Königin zu sehen, hoch droben über den Zinnen und Türmen, geformt aus Schneetreiben und dem Nachtschwarz am Rande der Welt.
    Den Zapfen ihres Herzens hielt er fest in seinen Krallen, flog, so schnell er konnte, weit, weit, weit ins Land hinaus,
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