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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot
Autoren: Gordon Reece
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    Meine Mum und ich wohnten in einem Häuschen, das etwa eine halbe Stunde außerhalb der Stadt lag.
    Es war nicht einfach gewesen, ein Haus zu finden, das unseren Anforderungen entsprach: ländlich, keine Nachbarn, drei Schlafzimmer, Vorgarten und Garten; ein altes Haus (wegen des Charakters), aber mit allen Annehmlichkeiten – eine moderne Zentralheizung war unverzichtbar, weil wir es beide gerne warm hatten. Es musste ruhig sein. Es musste abgeschieden sein. Schließlich waren wir Mäuse. Wir suchten kein Haus. Wir suchten ein Versteck.
    Wir besichtigten zahllose Immobilien, doch wenn wir das Dach des Nachbarhauses durch die Bäume sehen oder in der Ferne Verkehrslärm hören konnten, schauten wir einander an und strichen es von der Liste. Natürlich brachten wir die Besichtigung zu Ende und hörten geduldig zu, während man uns das Offensichtliche erklärte:
Dies ist das Schlafzimmer – noch ein Schlafzimmer – das Badezimmer.
Alles andere wäre uns unhöflich erschienen, immerhin hatte uns der Immobilienmakler ja so weit aufs Land hinaus gefahren. Außerdem hätte sich meine Mum wohl kaum gegen den dreisten jungen Mann mit dem gegelten Haar und dem ständig klingelnden Handy durchsetzen können
(Wir haben genug gesehen, danke, Darren, wir sind nicht interessiert)
. Mäuse sind niemals unhöflich. Mäuse sind nicht durchsetzungsfähig. Und so verbrachten wir viele Samstage damit, Häuser zu besichtigen, an denen wir überhaupt nicht interessiert waren.
    Irgendwann aber landeten wir im Honeysuckle Cottage.
    Es war nicht das hübscheste Häuschen von allen – die braune Ziegelfassade, die kleinen Fenster, das graue Schieferdach und die rauchgeschwärzten Schornsteine sahen so gar nicht nach einem Landhaus aus. Aber es war wunderbar abgeschieden, umgeben von weiten Feldern, und der nächste Nachbar wohnte fast einen Kilometer entfernt. Man konnte das Häuschen nur über eine gewundene, einspurige Straße erreichen, die sich in einem weiten Bogen um den großen Garten schlängelte. Mit den engen Haarnadelkurven und den Hecken an beiden Seiten erinnerte sie eher an ein Labyrinth als an eine öffentliche Straße. Zum ersten Mal kauften wir Darren tatsächlich ab, dass sich nur wenige Autos hierher wagten, weil sie fürchteten, hinter landwirtschaftlichen Fahrzeugen dahinzukriechen. Die lange, baumbestandene Einfahrt mit den Schlaglöchern und der scharfen Linkskurve verstärkte noch den Eindruck, dass Honeysuckle Cottage einfach zu weit von der rauen Wirklichkeit entfernt war, um uns dort zu finden.
    Und es herrschte eine himmlische Ruhe. Als wir an einem windigen Tag Anfang Januar aus Darrens Geländewagen stiegen, fiel mir als Erstes die Stille auf. Ich bemerkte sie, als die Vögel hoch über uns in den Bäumen verstummten und Darren seine unermüdlichen Anpreisungen
(Ich liebe dieses Haus – und das meine ich ernst – wenn ich könnte, würde ich morgen hierherziehen)
vorübergehend unterbrach. Da war es, das wunderbarste Geräusch der Welt – das absolute Fehlen von Geräuschen.
    Das Haus gehörte Mr und Mrs Jenkins, einem älteren Ehepaar, das uns an der Tür empfing. Strähniges graues Haar, gerötete Wangen, stämmig in ihren Strickjacken, Teebecher in der Hand. Sie brachen in herzliches Gelächter aus, obwohl niemand etwas Komisches gesagt hatte. Mr Jenkins erklärte, dass sie wegen der Gesundheit seiner Frau – »Die Pumpe stottert«, wie er sich ausdrückte – wieder in die Stadt ziehen mussten. Sie wollten nicht »in der Pampa« sitzen, falls etwas passierte. Es bräche ihnen das Herz, das Haus zu verlassen, und er versicherte uns, dass sie fünfunddreißig wunderbare Jahre hier verbracht hätten.
Ja, fünfunddreißig wunderbare Jahre,
wiederholte Mrs Jenkins als gehorsames Echo ihres Mannes.
    Sie unternahmen die übliche unbeholfene Tour durchs Haus: zu viele Leute in der engen Diele und auf dem Treppenabsatz, das Gedränge
(nach Ihnen – nein, nach Ihnen)
vor jeder Tür. Während wir von einem Zimmer ins nächste gingen, spürte ich immer wieder Mr Jenkins’ Blick. Er überlegte wohl, wie ein schüchternes Mädchen aus der Mittelklasse an die hässlichen Narben im Gesicht gekommen war. Ich war erleichtert, als sie uns durch die Küche in den Garten führten, wo ich zurückbleiben und seinen neugierigen blauen Augen entgehen konnte.
    Mr Jenkins war ein erfahrener Gärtner, der sein Licht nicht unter den Scheffel stellte. Wir trotteten hinter ihm her, während er uns seine
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