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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
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hinüber, flüsterte ihren Namen und bettete ihren Kopf in seinem Schoß. Der Adler schoss vom Himmel herab, landete mit gespreizten Flügeln neben seinen Geschwistern und stieß Pallis mit dem Schnabel an.
    Maus stand da wie betäubt. Etwas Kaltes, Feuchtes berührte ihre Wange. Erlens Nase.
    »Ist es vorbei?«, fragte sie.
    Ein Ruck fuhr durch die Eisbrücke. Der Schneesturm um sie herum verebbte, die Sicht klärte sich, gerade so, als fielen sie aus einer Wolke.
    Tatsächlich – der Boden kam näher. Sie verloren an Höhe.
    Die Brücke stürzte ab.
     
    *
     
    Im ersten Moment schien es genau das zu sein: ein Sturz.
    Dann aber durchfuhr Maus die Erkenntnis, dass sie – wäre dies wirklich ein freier, ungebremster Fall – alle längst von der Brücke geschleudert worden wären. Ganz sicher wäre das Fragment des Eisbogens nicht waagerecht in die Tiefe gesunken, und die Geschwindigkeit eines Absturzes hätte viel schneller sein müssen.
    Hinter ihr raspelte sich das Ende der Brücke heran, und so griff Maus kurzerhand in Erlens Fell und brachte ihn dazu, mit ihr näher an die drei Magier heranzulaufen. Pallis bewegte sich und stöhnte, aber Maus hatte keine Zeit, länger hinzusehen. Stattdessen wurde ihr Blick wie hypnotisch von der Landschaft angezogen, die unter ihnen klarer und detailreicher wurde. Weites, unberührtes Weiß. Die verschneite Leere der Tundra.
    Rufus begann plötzlich zu sprechen, unverständliche Worte, ein monotoner Singsang. Er hatte die Lider gesenkt und schirmte Pallis’ Augen mit der Hand ab. Der Adler stieß einen Schrei aus und flatterte aufgeregt. Pallis öffnete die Lippen und fragte etwas in ihrer Muttersprache.
    Rufus nickte. Sagte etwas zu Tamsin. Schaute noch einmal zu Maus herüber, und diesmal sah er traurig aus, gar nicht mehr finster und Furcht einflößend.
    Er sprach ein Wort, und im selben Augenblick lösten er und Pallis sich auf. Ein Zerren und Ziehen der Wirklichkeit, ein Farbenregen, dann etwas, das wie zwei Atemwolken aussah und vom Gegenwind nach oben fortgerissen wurde. Die beiden Geschwister verschwanden so unvermittelt, wie sie im Foyer des Hotels erschienen waren.
    Maus, das Rentier und der Schneeadler blieben allein auf der sinkenden Brücke zurück.
    »Wo sind sie hin?«, fragte Maus, aber sie ahnte die Antwort: Rufus hatte die entkräftete Pallis in Sicherheit gebracht. Vielleicht nach Hause.
    »Und wir?«, flüsterte Maus.
    Das Weiß der Landschaft schien sie schlucken zu wollen, denn plötzlich war es überall. Ein furchtbarer Ruck riss Maus von den Füßen, nicht der Aufprall, wie sie im ersten Augenblick dachte, sondern abermals die Krallen des Adlers, die sie im letzten Moment vom Boden hoben. Neben ihr, unter ihr, machte Erlen einen Satz zur Seite, sprang von der Brücke – und landete strauchelnd, aber sicher im Schnee.
    Was von der Brücke übrig war, erreichte im selben Moment den Boden. Es war kein harter Aufschlag, immer noch abgebremst von den Resten jener Magie, die sie zuvor in den Lüften gehalten hatte. Und doch reichte die Erschütterung aus, um die Überbleibsel des Bogens zu klumpigem Schnee zu zerschmettern.
    Tamsins Krallen öffneten sich und setzten Maus ab. Ihr war schwindelig, sie verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Der Schnee fing sie auf, und nach einem Augenblick konnte sie sich hochrappeln, noch immer ganz fassungslos, dass sie nicht zerschellt oder verzaubert oder sonst wie zu Tode gekommen war.
    Über ihnen wölbte sich ein tiefblauer, klarer Winterhimmel. Nirgends war mehr eine Wolke zu sehen. In alle Richtungen erstreckte sich eine weite, verschneite Ebene, aus der hier und da dürres Geäst hervorlugte.
    Erlen trabte heran, noch ein wenig wacklig auf den Beinen, tippte seine Nase gegen ihre Schulter und deutete mit einer Kopfbewegung auf seinen Rücken. Sie wollte der Einladung folgen, doch dann fiel ihr Blick auf etwas Rotgelbes zwischen den eisigen Trümmern der Brücke.
    »Warte«, sagte sie mit schwankender Stimme, stapfte durch den Schnee und zerrte den verbeulten Zylinder unter dem Eis hervor. Sein Inneres war jetzt nicht mehr von Schwärze erfüllt. Dennoch wagte sie nicht, die Hand hineinzustecken.
    Ihr Blick suchte Tamsin, die sich in ihrer Adlergestalt neben ihr im Schnee niederließ. »Es waren die Pforten, oder? Pallis hat sie heraufbeschworen.«
    Der Adler krächzte.
    Maus erinnerte sich, was die Königin zu ihr gesagt hatte; darüber, dass sie einzig und allein aus Eis bestünde und schon von der ersten der
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