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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
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betrübt den Kopf. »Ich kann dort nichts tun. Pallis und Rufus werden schon zusehen, wie sie mit der Königin fertig –«
    Neben ihr ertönte ein grässliches Bersten.
    »Nein!«, flüsterte sie.
    Tamsins Eiskörper bekam Risse, die sich in Windeseile über der ganzen Oberfläche verästelten. Ein kristallener Arm fiel ab, dann ein Bein. Tamsin brach auseinander.
    Und aus ihrem Inneren, wie aus einem gläsernen Ei, schlüpfte etwas Weißes, Gefiedertes.
    Ein ausgewachsener Schneeadler.
    Der Vogel stieg aus den berstenden Eisklumpen in die Lüfte, verharrte, wie das nur Raubvögel können, und raste dann wieder auf Maus und die Überreste von Tamsins altem Körper zu. Er ließ sich auf dem durchsichtigen Schädel nieder, der unter seinen Krallen zerbröckelte. Der Adler machte einen eleganten Hüpfer und landete direkt vor Maus’ Knien im Schnee.
    »Tamsin?«, fragte Maus mit trockener Stimme.
    Der Schneeadler stieß einen hohen, schrillen Schrei aus. Sein Blick bohrte sich in ihren.
    Um Maus drehte sich alles. Sie streckte vorsichtig eine Hand aus und streichelte mit dem zitternden Zeigefinger die Brust des Adlers. Er ließ es bereitwillig geschehen.
    »Tamsin …«
    Die Magierin hatte Maus erzählt, dass sie den Herzzapfen in Gestalt eines Adlers aus der Feste der Schneekönigin gestohlen hatte. Nun war sie zurück in diesen anderen Körper gefahren, bevor das Eis auch ihren Geist und ihre Magie hatte lähmen können. Aber würde sie je wieder ein Mensch sein können? Oder war sie für immer eine Gefangene im Leib eines Vogels?
    Einmal heftiger stieß das Rentier sie an, fast zornig, als wollte es sagen: Was spricht dagegen, ein Tier zu sein? Dann drehte es sich mit der Flanke zu Maus – eine weitere Aufforderung, auf seinen Rücken zu steigen.
    Der Schneeadler erhob sich mit einem Kreischen. Seine mächtigen Schwingen wehten Eiswind in Maus’ Gesicht. Auch er flog jetzt auf die Brücke zu, die sich immer weiter von der Brüstung der verschneiten Terrasse entfernte, schlug einen Haken und kreiste über ihren Köpfen.
    »Mach schon«, sagte Kukuschka.
    Maus sah ihn hilflos an. »Aber ich … ich gehöre doch hierher, ins Aurora … und ich …« Sie verstummte. Ihnen blieb keine Zeit. Bald würde der Abstand zwischen Terrasse und Brücke selbst für die Sprungkraft eines Rentiers zu groß sein.
    Kukuschka lächelte, trotz seiner Schmerzen. »Das Aurora hat dich all die Jahre über gefangen gehalten, Maus. Aber jetzt bist du bereit … Geh schon. Schnell.«
    »Und was wird aus dir?«
    »Ich bin Geheimpolizist, schon vergessen?« Sein Lächeln sah jetzt ein wenig gequält aus. »Ich werde ihnen irgendeine Geschichte erzählen. Sie werden mir schon glauben. Mach dir keine Sorgen.«
    Sie lief zu ihm, umarmte ihn fest und küsste ihn. »Danke, Kuku. Für alles.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich danke dir .«
    Sie schluchzte und lachte zugleich. »Für das kaputte Knie?«
    »Für eine … sagen wir: Lehre.« Er streichelte ihr struppiges kurzes Haar, dann gab er ihr einen sanften Klaps auf den Rücken. »Los jetzt. Beeilt euch!«
    Sie stand schweren Herzens auf und zog sich auf den Rücken des Rentiers. Es scharrte und schnaubte, dann galoppierte es los – geradewegs auf den Abgrund zu.
    »Leb wohl, Kuku!«, rief sie über die Schulter.
    Er winkte und gab eine Antwort, aber sie verstand ihn nicht mehr. Über ihr schoss der Schneeadler nach Norden.
    Das Rentier stieß sich ab, schnellte über das Geländer und sprang ins Leere.
Das letzte Kapitel
    Das Ende der Eisbrücke kam immer näher. Der funkelnde Stumpf, der sie einst mit dem Gebäude verbunden hatte, schien zu brodeln, so schnell verschob und bewegte sich dort der Schnee nach vorne.
    Erlens Vorderläufe kamen auf, Eiskristalle stoben empor. Dann berührten auch seine Hinterbeine den Boden. Er galoppierte weiter, tiefer hinein ins dichte Schneetreiben. Der Schneeadler krächzte über ihnen im flockenschweren Himmel.
    Maus konnte zu beiden Seiten der Brücke den Abgrund erkennen, ganz trüb und grau durch den dichten Schnee. Da waren die Dächer nördlich des Newski Prospekts, die Türme des Sankt-Michails-Palasts. All das erschien ihr künstlich, wie eine bemalte Tapete. Wenn das Rentier jetzt abrutschte, so kam es ihr vor, würde sie nicht in die Tiefe stürzen, sondern gegen eine Kulisse prallen. Als würden alle Gesetze der Vernunft hier in ihr Gegenteil verkehrt und die Welt dort draußen als Täuschung entlarvt.
    Der Schneeadler krächzte lauter.
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