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Eine Idee des Doctor Ox

Eine Idee des Doctor Ox

Titel: Eine Idee des Doctor Ox
Autoren: ekz.bibliotheksservice GmbH
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Erstes Capitel,
dem zufolge es unmöglich ist, die kleine Stadt Quiquendone selbst auf den besten Karten zu finden.
    Wenn Ihr Euch daran macht, auf einer älteren oder neueren Karte von Flandern die kleine Stadt Quiquendone aufzusuchen, wird
     Eure Mühe sich wahrscheinlich als vergeblich erweisen. Ist Quiquendone denn vom Erdboden verschwunden? Nein. Eine Stadt der
     Zukunft vielleicht? Auch das nicht. Sie existirt den Handbüchern der Geographie zum Trotz, und zwar schon seit acht- oder
     neunhundert Jahren; ja, sie zählt sogar 2393 Seelen, wenn man jedem ihrer Bewohner eine Seele zuerkennen will. Quiquendone
     erstreckt sich dreizehn und ein halb Kilometer nordwestlich von Audenarde und fünfzehn und ein Viertel Kilometer südöstlich
     von Bruges, mitten in Flandern. Die Stadt liegt an dem Vaar, einem kleinen Nebenfluß der Schelde, über den drei Brücken hinwegführen,
     die sämmtlich nach alterthümlicher Weise überdacht sind.
    Als Merkwürdigkeiten der Stadt sind zu nennen ein altes Schloß, dessen Grundstein vom Grafen Balduin, dem zukünftigen Kaiser
     von Constantinopel, gelegt wurde, und ein Rathhaus mit gothischenBogenfenstern, das von Zinnen gekrönt und von einer dreihundertsiebenundfünfzig Fuß hohen Warte mit Thürmchen überragt wird.
     Man hört hier jede Stunde ein Glockenspiel von fünf Octaven, ein förmliches Luftclavier, das einen noch größeren Ruf hat,
     als das Glockenspiel in Bruges. Die Fremden – wenn nämlich überhaupt Fremde nach Quiquendone kommen – verlassen die Stadt
     nicht, ohne sich den Saal der Stadthouder angesehen zu haben, der mit einem Bilde von Brandon geschmückt ist, das Wilhelm
     von Nassau in Lebensgröße darstellt; ferner besuchen sie das Empor der Kirche Saint-Magloire, ein Meisterwerk der Baukunst
     aus dem sechzehnten Jahrhundert, den schmiedeeisernen Brunnen, der mitten auf dem großen Platze Saint-Ernuph ausgegraben ist,
     und dessen wundervolle Verzierung man dem Maler und Grobschmied Quentin Metsys verdankt, und endlich ein Grabmal der Maria
     von Burgund (Tochter Karl's des Kühnen), das ihr hier errichtet ist, obgleich sie jetzt in der Notre-Dame-Kirche zu Bruges
     ruht. Als Hauptindustriezweig betreibt Quiquendone die Fabrikation von Schlagsahne und Gerstenzucker auf großer Scala, und
     wird diese Fabrik seit Jahrhunderten in der Familie Tricasse verwaltet und vom Vater auf den Sohn vererbt. Aber trotz alledem
     ist Quiquendone nicht auf der Karte von Flandern zu finden; ob aus Vergeßlichkeit der Geographen oder aus böslicher Absicht,
     ist mir unerforscht geblieben. So viel jedoch steht fest: Quiquendone existirt, und seine engen Straßen, seine befestigte
     Umfassungsmauer, seine Markthalle und endlich sein Bürgermeister legen beredtes Zeugniß dafür ab; ja der Letztere würde Euch
     auf das Klarste darthun können, daß Quiquendone in jüngster Zeitder Schauplatz eines ebenso außerordentlichen und unwahrscheinlichen, als wahrhaftigen Natur-Phänomens gewesen ist, und hierüber
     wollen wir in vorliegender Erzählung getreulich berichten.
    Von den Flamändern des westlichen Flanderns läßt sich gewiß weder Böses sagen noch denken; sie zeigen sich als rechtschaffene,
     sparsame, gesellige, gleichmüthige und gastliche Leute, die, was ihre Sprache und geistigen Fähigkeiten anbetrifft, vielleicht
     ein wenig schwerfällig sind, aber das erklärt noch immer nicht, wie es kommt, daß eine der interessantesten Städte des Landes
     sich ihren Platz in der neueren Kartographie erst noch erobern soll. Ja, diese Unterlassungssünde der Geographen ist gewiß
     zu bedauern. Wenn nun wenigstens die Geschichte, oder statt ihrer die Chroniken, oder doch wenigstens die Ueberlieferung des
     Landes die Stadt Quiquendone erwähnten! Aber nein; weder die Atlanten noch die Reisehandbücher sprechen von diesem vergessenen
     Ort, und selbst Herr Joanne, den man sonst wohl als einen Jäger auf kleine Nester bezeichnen kann, sagt kein Wort darüber.
     Daß solch ein Schweigen dem Handel und der Industrie von Quiquendone schaden muß, liegt auf der Hand; wir wollen diesem Ausspruch
     aber eiligst hinzufügen, daß die Stadt weder auf Handel noch Industrie Anspruch macht und ganz vorzüglich ohnedem fertig wird.
     Ihr Gerstenzucker und ihre Schlagsahne wird am Orte selbst verzehrt und nicht weiter ausgeführt. Kurz, die Quiquendonianer
     brauchen Niemanden; ihr Wünschen ist beschränkt und ihre Existenz eine durchaus bescheidene; sie verhalten sich ruhig,
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