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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
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schließlich aus den Schneewolken in die Trümmer des Schlafzimmers.
    Tamsin kniete noch immer dort, wo Maus sie zurückgelassen hatte. Der Frost hatte auf ihre Kleidung übergegriffen. Mit einem Knirschen, das wie brechendes Eis klang, hob sie langsam den Kopf und blickte Maus entgegen. Ihr Gesicht war starr »Warum helfen sie dir nicht?«, entfuhr es Maus verzweifelt. »Sollen sie die Königin doch laufen lassen.«.
    »Sie können mir … nicht helfen …«
    »Aber es muss doch einen Weg –«
    »Nur … einen.«
    Maus horchte auf. »Was kann ich tun?«
    Tamsins Lippen bewegten sich kaum mehr, als sie antwortete: »Nichts. Ich muss selbst …«
    »Was?«
    »Ich … vielleicht …« Und damit wurden ihre Lippen zu Eis und erstarrten.
    Maus hörte Geräusche hinter sich im Schnee, und als sie sich umschaute, kam jemand – etwas – durch die Tür des Zimmers getrabt. Ein schlanker, muskulöser Leib. Drahtiges Fell. Abgesägte Stümpfe eines Geweihs über treuen braunen Augen.
    »Erlen? Aber wie –«
    Kukuschka lag mehr auf dem Rücken des Rentiers, als dass er saß. Maus hatte ihn im ersten Moment gar nicht wahrgenommen, aber jetzt sah sie, dass er sich mit letzter Kraft festhielt – und plötzlich von dem Rentier herunterglitt. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm und half ihm zu Boden. Fiebernd vor Schmerz, lag er vor ihr im Schnee. Sein Blick streifte den kristallisierten Master Spellwell, dann Tamsin. Schließlich fixierte er Maus. »Diese beiden Gestalten sind aus dem Nichts unten im Foyer aufgetaucht. Sie sind einfach an uns vorbeigelaufen …«
    Das Rentier schnaufte protestierend.
    »Ja, gut«, verbesserte sich Kukuschka, »das Mädchen hat Erlen gestreichelt, bevor der Mann sie fortgezogen hat … Jedenfalls liefen sie die Treppe hinauf, und wir sind hinterher. Der Mann hat die Lawine mit einer Handbewegung weggefegt … Einfach so. Und dann sind sie rauf ins Obergeschoss, und wir … wir sind jetzt hier.«
    »Sind noch immer keine Soldaten im Hotel?«
    Kukuschka schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihre Taktik. Sie warten erst ab, ob vielleicht noch weitere Bomben hochgehen – oder was sie für Bomben halten.« Er deutete auf die zerstörten Wände, das fortgerissene Dach.
    Maus drehte sich um. »Tamsin …«
    »Ja«, sagte Kukuschka bedauernd. »Sieht nicht gut für sie aus.«
    Erlen stieß Maus mit der Schnauze an. Sie folgte dem Blick seiner Rentieraugen. Auf der Terrasse hatte es jetzt aufgehört zu schneien, das Unwetter tobte scharf abgegrenzt gut hundert Meter weiter draußen. Dort ballte sich hoch über den Dächern Sankt Petersburgs das Schneetreiben um die magische Eisbrücke, die sich nach vorn hin – unsichtbar im Sturm – wohl immer noch verlängerte, während sich ihre Verbindung zum Gebäude vollständig aufgelöst hatte. Ihr diesseitiges Ende schwebte jetzt frei in der Luft, etwa zwei Meter vom Geländer entfernt. Noch immer bildeten sich Wellen aus Schnee und Eissplittern, die weiter nach vorn in den Sturm wanderten.
    »Die beiden sind ihr gefolgt, oder?«, fragte Kukuschka.
    Maus nickte fahrig, eilte zu Tamsin und ließ sich neben ihr im Schnee nieder. Wenn sie schon nichts tun konnte, um den Frostzauber aufzuhalten, wollte sie wenigstens bis zuletzt bei ihr sein. Es tat furchtbar weh, nicht einmal ihre Hand halten zu können.
    Erlen trabte neben sie und stieß sie abermals mit der Nase an.
    »Ich weiß … die Brücke löst sich auf«, sagte sie schluchzend, ohne den Blick von Tamsin zu nehmen. »Ich hab’s gesehen.«
    Aber hatten Rentiere womöglich schärfere Augen als Menschen? Gab es da noch etwas, das ihr entgangen war?
    Sie wischte sich die gefrierenden Tränen aus den Augen und blickte erneut zur Brücke. Die Distanz zwischen dem Geländer und dem eisigen Stumpf war jetzt größer geworden. Drei Meter mindestens. Und das Ende löste sich weiter auf. Der Sturm verdeckte noch immer alles, was weiter draußen auf dem Eis geschah.
    »Ich kann nichts erkennen«, sagte sie leise.
    Erlen scharrte aufgeregt im Schnee.
    Da verstand sie. »Du willst hinterher?« Niedergeschlagen streichelte sie seinen Hals. »Du bist immer noch ihr Gefangener, hmm? Du willst zu ihr.« Enttäuschung und Trauer schnürten ihr fast den Atem ab. »Das ist deine Entscheidung.«
    Aber das Rentier stupste sie ein weiteres Mal an und verdrehte dann den Kopf nach hinten, deutete auf seinen Rücken.
    »Ich soll mitkommen? Mit dir über die Brücke reiten?«
    Erlen scharrte noch schneller.
    Maus schüttelte
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