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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
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nicht wahr?« Maus blieb am Fuß der märchenhaften Eisbrücke stehen und musste jetzt zur Königin aufblicken. »Sie haben ihn gerufen, und er wird mit Ihnen gehen.«
    »Vielleicht.«
    »Das ist nicht gerecht.«
    Einen Moment lang sah es aus, als würde die Tyrannin das Gewicht dieses Einwurfs ernsthaft abwägen. »Ich habe ihn vor langer Zeit gefangen und zu meinem Diener gemacht. Aber wenn er mir heute gehorcht, dann tut er es aus freien Stücken. Ich habe jetzt keine Macht mehr über ihn.«
    »Er fürchtet Sie.«
    »Und das solltest du auch.«
    Das Haar der Schneekönigin züngelte flatternd um ihre ausgezehrten Züge. Maus sah wieder den stummen Jungen vor sich, seine riesengroßen braunen Augen. Dann das Rentier, zu dem er geworden war, nachdem er sein Fell zurückerhalten hatte.
    Die Königin wurde der Unterhaltung überdrüssig und wandte sich ab. Immer noch gebeugt, aber jetzt merklich kraftvoller, setzte sie ihren Weg über die Brücke fort. Bald würde sie wieder im Schneetreiben verschwunden sein, diesmal für immer. Schon begann der Fuß der Eisbrücke in Bewegung zu geraten: Ganz unten lösten sich Schneeschollen und wanderten wellenförmig aufwärts, um das vordere Ende zu verstärken. Eine magische Brücke wie diese schien keinen Anfang und kein Ende auf festem Grund zu benötigen. Sie ruhte frei schwebend in der Luft und baute am einen Ende an, was sich am anderen ablöste.
    Maus spürte, dass mit einem Mal jemand neben ihr war.
    Sie blickte nach rechts und sah einen Umriss in den Ausläufern des Schneesturms auftauchen. Im allerersten Moment glaubte sie, es wäre Tamsin. Da war der lange, wehende Mantel. Flatterndes Haar. Ein hoher Zylinder.
    Aber Tamsins Hut war zerstört worden. Maus selbst hatte dafür gesorgt, als sie den Bann der Sieben Pforten gebrochen hatte.
    Etwas berührte sie an der linken Schulter. Da war noch jemand. Sie entdeckte eine zweite Gestalt, kleiner und schmächtiger als die erste, aber ähnlich gekleidet, wenn auch bunter, fast so wie Tamsin. Eine schmale Hand hatte Maus an der Schulter gefasst, ließ jetzt wieder los und gab ihr mit einem Kopfschütteln zu verstehen, keine Fragen zu stellen.
    Es war eine junge Frau, nein, eher noch ein Mädchen. Achtzehn vielleicht, kaum älter. Es hatte feuerrotes, wild gelocktes Haar, das in so drahtigen Kringeln unter dem Zylinder hervorschaute, dass nicht einmal der Sturm es zerzausen konnte.
    »Bitte«, sagte das Mädchen freundlich, »tritt beiseite.«
    Maus blickte wieder nach rechts. Die erste Gestalt war näher gekommen. Ein Mann um die vierzig mit düsteren Zügen, in denen zwei bernsteinfarbene Augen wie Glutstücke brannten. Sein langes Haar war wild und dunkel, die Augenbrauen buschig. Sein Blick streifte sie beiläufig und suchte dann die Königin, die sich oben auf der Brücke entfernte. Der Mann gab Maus keine Zeit, der Aufforderung des Mädchens Folge zu leisten; stattdessen packte er sie und riss sie grob nach hinten.
    »Hey!«, stieß sie noch aus, dann landete sie auch schon auf dem Hinterteil im Schnee.
    »Rufus!«, rief das rot gelockte Mädchen empört.
    Der Mann hörte nicht auf sie, sondern machte sich daran, den Eisbuckel zu erklimmen. Erst jetzt fiel Maus auf, dass beide geschlossene Regenschirme trugen. Der des Mädchens war orangerot gestreift, der des Mannes rabenschwarz.
    »Nimm ihm das nicht übel«, sagte das Mädchen zu Maus und plapperte aufgekratzt weiter: »Du hättest ihn mal erleben sollen, als ich der Katze ein drittes Auge gezaubert habe. Oder als ich Geldscheine in Schmetterlinge verwandelt habe. Oder als mein Regenschirm –«
    »Pallis!«, brüllte der Mann, ohne sich umzudrehen. »Komm jetzt!«
    Das Mädchen zuckte die Achseln, lächelte entschuldigend und kletterte hinter ihrem älteren Bruder auf die Brücke. Unter ihren schmalen Füßen war der Schnee weich und bröckelig – ein weiteres Anzeichen dafür, dass sich das untere Ende allmählich auflöste, um nach vorn zu wandern.
    Rufus und Pallis. Deshalb also hatte Tamsin Zeit schinden wollen. Sie musste geahnt oder vielleicht auch nur gehofft haben, dass ihr ältester Bruder und ihre jüngste Schwester auf dem Weg nach Sankt Petersburg waren. Als Tamsin von Rufus gesprochen hatte, hatte sie respektvoll, beinahe ängstlich geklungen, wie es sonst so gar nicht ihre Art war.
    Überhaupt … Tamsin!
    Maus wollte aufspringen, aber ihre Füße rutschten weg. Sie fing sich gerade noch, machte die ersten Schritte auf allen vieren und stolperte
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