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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
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erkennen, nichts Genaues.
    Maus ging erneut neben Tamsin in die Hocke. Der Drang, ihr aufzuhelfen, sie zu berühren, wurde immer stärker, aber sie hielt sich zurück.
    »Sie will fliehen«, sagte Tamsin bitter.
    Maus wusste zu wenig über die Macht der Schneekönigin, um zu erkennen, ob Tamsin mit ihrer Vermutung richtig lag. Sicher hatte der Kampf die Tyrannin geschwächt, Tamsins Zauberworte mochten sie beinahe besiegt haben – aber eben nur beinahe. Würde sie sich wirklich davonmachen, ohne ihrer Gegnerin den Todesstoß zu versetzen?
    Aber begreifst du denn nicht?, wisperte es in Maus. Das hat sie doch längst getan! Und erst da wurde ihr wahrhaftig bewusst, dass Tamsin sterben würde.
    Die Magierin musste ihr angesehen haben, was sie dachte, denn ein schmerzerfülltes Lächeln erschien auf Tamsins Lippen. »Es kriecht immer weiter an mir herauf … unter den Kleidern … Zu schwach, um es aufzuhalten … Aber … er war mein Vater. Ich musste doch Abschied nehmen.«
    Maus starrte sie unter Tränen an. Sie liefen über ihre Wangen und gefroren, bevor sie ihr Kinn erreichten. Wie sehr sie sich wünschte, Tamsin in den Arm zu nehmen! Aber dann würde der Frostzauber auch auf sie überspringen. Einen Moment lang, nur für einen Moment, war es ihr beinahe egal.
    Sie riss sich zusammen und wischte mit einer unwilligen Handbewegung die vereisten Tränen von ihren Wangen.
    »Zeit gewinnen …«, stöhnte Tamsin.
    »Was?«
    »Versuch, sie aufzuhalten … nur eine Weile …«
    Maus überlegte nicht lange. Sie sprang auf und lief an Master Spellwells Eiskörper vorüber in die Wand aus tobenden Schneeflocken. Die Königin war dahinter jetzt unsichtbar, ebenso wie die Terrasse und das winterliche Panorama Sankt Petersburgs. Die Welt hätte hier enden können, es hätte kaum einen Unterschied gemacht.
    Halb blind tapste Maus durch den Schneesturm, dort vorbei, wo eben noch die Königin gelegen hatte. Die Schneeflocken erreichten hier nicht einmal mehr den Boden, sondern wurden kurz vorher von etwas angesaugt, das sich dort draußen am Rand der Terrasse aufgetürmt hatte.
    Im ersten Moment glaubte sie, es sei einfach nur ein Hügel aus Eis, ein mächtiger Buckel, der den Blick auf den Abgrund jenseits des Geländers versperrte. Dann aber erkannte sie, dass es der Beginn einer Brücke war.
    Eine gebogene Brücke aus Eis und Schnee, grobschlächtig geformt, ein unregelmäßiger Bogen, der an der Kante der Terrasse begann und hinaus in das Unwetter reichte. Wohin sie führte, konnte Maus nicht erkennen. Nach Norden, so viel stand fest.
    Die Königin war direkt vor ihr, nur wenige Meter entfernt. In ihrem weißen Kleid, mit dem hellen Haar und der bleichen Haut, hätte Maus sie fast übersehen. Nun aber erkannte sie, dass die Tyrannin sich gebeugt die Schräge der Schneebrücke emporschleppte, mühsam und fast ein wenig Mitleid erregend. Sie hatte Maus den Rücken zugewandt. Ihr Haar hatte sich gelöst und wehte auf den Nordwinden in langen Strähnen wie ein weißes Medusenhaupt.
    Bevor sie noch darüber nachdachte, rief Maus: »Warten Sie!«
    Die Königin zögerte kurz, drehte sich aber nicht um und stieg dann weiter den eisigen Brückenbogen empor.
    »Machen Sie es rückgängig!« Das zu verlangen, war kindisch und ganz sicher aussichtslos. Aber die Worte sprudelten einfach so aus ihr heraus. »Sie können das, oder? Sie können den Frostzauber wieder von ihr nehmen.«
    Nun blieb die Königin doch stehen, umtost von den Ausläufern des Schneesturms, dessen Zentrum ganz allmählich weiterwanderte, um seine Eismassen dem vorderen, unsichtbaren Ende der Brücke einzuverleiben; dadurch wuchs der Eisbogen weiter und weiter über die Dächer hinweg, bis er wohl irgendwann außerhalb der Stadt oder gar im Nordland selbst ankommen würde.
    »Warum sollte ich das tun?«, fragte die Königin. Die Winde verzerrten ihre Stimme, aber selbst durch die Schneewirbel sah Maus das niederträchtige Lächeln auf ihren Zügen. Es stahl ihr den letzten Rest von Schönheit, der ihr nach den Mühen des Zauberduells geblieben war.
    »Weil ich Ihnen den Herzzapfen gebracht habe!«, entgegnete Maus und wusste genau, wie papierdünn dieses Argument war.
    Die Königin zerfetzte es in der Luft. »Und Erlen hat dafür sein Fell bekommen, so wie es abgemacht war.«
    Dagegen war nichts einzuwenden. Die Königin hatte sich an ihren Teil des Handels gehalten.
    Aufhalten, hatte Tamsin gesagt, nur eine Weile. Aber wofür?
    »Erlen wird Ihnen trotzdem folgen,
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