Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
überhaupt nichts mehr, denn dort war jetzt die abgerundete Kante des Brückenstumpfs. Sie rutschte nach hinten, war plötzlich in der Schräge, ihre Füße sackten nach unten weg, ihre Beine folgten, dann ihr ganzer Körper.
    Ein ohrenbetäubendes Kreischen ertönte. Dann schlugen scharfe Krallen in ihre Uniformjacke, in den dicken Pullover, ritzten ihre Haut. Sie wurde gepackt, fühlte sich durch die Luft geschleudert, kam hart, aber nicht schmerzhaft auf und begriff erst einen Augenblick später, dass sie nicht mehr im Schnee lag, sondern auf dem Rücken des Rentiers. Erlen war trotz der Schreie seiner Herrin zu Maus zurückgekehrt, um sie in Sicherheit zu tragen. Über sich sah sie gerade noch den Adler hinwegschießen. Blitzschnell war er wieder im Schneetreiben verschwunden.
    »Danke«, flüsterte sie ins Ohr des Rentiers, das sich auf der Stelle in Bewegung setzte und dem Vogel hinterhergaloppierte.
    Unvermittelt tauchten vor ihr die drei Gestalten auf. Zwei lagen jetzt am Boden, eine dritte war in die Knie gegangen. Dunkle Flecken waren im Schnee zu sehen: ein schwarzer Mantel, zerfetzt wie von einer riesigen Kralle; ein skelettierter Regenschirm, nur blankes Holz und verbogener Draht; ein zweiter Schirm, der mit der Spitze im Schnee feststeckte, während sein Maul an der Rückseite wütend ins Leere schnappte; und, schließlich, die beiden Zylinder, der eine schwarz und angekohlt, der andere rotgelb und äußerlich unversehrt, aber meterweit von seiner Besitzerin entfernt.
    Rufus und Pallis lagen im Schnee. Die Geschwister lebten, waren aber sichtbar angeschlagen. Rufus versuchte, sich hochzustemmen, doch seine Ellbogen gaben nach. Stöhnend sank er zurück. Pallis wimmerte leise. Ihr rechter Arm war merkwürdig abgespreizt, womöglich gebrochen. Ihre Augen richteten sich hasserfüllt auf ihre Gegnerin.
    Die Königin kniete im Schnee. Sie ließ den Kopf vornüberhängen und atmete schwer. Ihr Kleid war an vielen Stellen zerrissen, darunter kam ihre milchige Eishaut zum Vorschein. Wunden an ihren Armen und am Rücken hätten eigentlich bluten müssen, doch sie glänzten nur wässrig und überfroren bereits.
    Erlen verlangsamte sein Tempo und tänzelte auf der Stelle, nicht weit von der Königin entfernt. Sie sah auf und wandte den Kopf in die Richtung des Rentiers. Maus unterdrückte den Drang, hinter seinem Hals in Deckung zu gehen. Mit zusammengepressten Lippen erwiderte sie den Blick. Die Königin lächelte, und nun wirkte es nicht mehr bösartig wie vorhin, sondern wieder sanft und freundlich. Sogar ein Hauch ihrer alten Schönheit kehrte zurück auf ihre erschöpften Züge.
    »Erlen«, flüsterte sie und streckte ihm eine zitternde Hand entgegen. »Komm und trag mich heim. Trag mich heim ins Nordland.«
    »Nein«, fauchte Pallis heiser. Sie versuchte aufzustehen, fiel aber gleich wieder zu Boden. Ihre roten Locken sahen im Schnee aus wie Blut.
    Erlen zögerte. Tänzelte. Schnaubte verwirrt.
    »Komm zu mir«, lockte ihn die Schneekönigin, aber ihre Hand bebte jetzt noch stärker. Schließlich ließ sie den Arm in den Schnee sinken. Ihre Finger schienen mit dem glitzernden Weiß zu verschmelzen.
    »Tu’s nicht«, flüsterte Maus Erlen zu. »Du musst ihr nicht gehorchen. Sie ist nicht mehr deine Herrin.«
    »Nein?« Die Königin blickte auf, ihre Miene verfinsterte sich. »Wer dann? Du vielleicht? Ein Kind?«
    »Er muss niemandem gehorchen«, entgegnete Maus energisch, obgleich sie doch die Macht der Königin immer noch fürchtete. Jetzt, da die Tyrannin in die Enge getrieben und geschwächt war, mochte sie gefährlicher sein denn je. »Erlen kann selbst entscheiden, auf wessen Seite er steht.«
    »Und sie nach Belieben wechseln, genau wie du?«
    Maus hatte stets nur getan, was ihr das Richtige zu sein schien. Dafür schämte sie sich nicht. »Erlen soll selbst entscheiden«, sagte sie und glitt vom Rücken des Rentiers in den Schnee. Sie streichelte ihn, küsste seine Flanke und trat dann einen Schritt zurück. »Wenn du zu ihr gehen willst«, sagte sie, »dann geh. Und wenn du sie ins Nordland tragen willst, damit sie wieder so mächtig und grausam wird wie früher, dann musst du es tun.«
    Das Rentier tänzelte jetzt noch aufgeregter, blieb dann aber stehen und wurde ganz ruhig. Schnaubte noch einmal mit bebenden Nüstern und verstummte. Sein Blick suchte Maus, strich dann am Boden entlang, vorbei an Pallis’ verlorenem Zylinder im Schnee, bis hin zur Königin, die Erlen in düsterer Erwartung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher