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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
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anstarrte.
    Ganz langsam und bedächtig setzte sich das Rentier in Bewegung.
    Maus biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Rufus keuchte leise. Pallis versuchte noch einmal aufzustehen und brach abermals zusammen. Die Königin lächelte wieder. Im Schneetreiben schrie der Adler.
    Hinter Maus’ Rücken ertönte Rauschen und Scharren. Das Ende der Brücke kam näher. Noch immer war der Schnee in Bewegung, wanderte von hinten nach vorn. Bald würde der Abgrund sie alle einholen.
    Erlen wandte im Gehen den Kopf zurück, eine Geste, die bei einem Rentier seltsam wirkte. Er sah an seiner Flanke entlang zu Maus, in seinen Augen spiegelte sich das Winterweiß. Dann blickte er wieder nach vorn, zur Königin, die jetzt erneut die Hand hob und nach ihm ausstreckte.
    »Erlen«, flüsterte sie brüchig, »komm zu mir.«
    Maus ließ die Schultern hängen und folgte dem Rentier in einigem Abstand. Hinter ihr kam das Brückenende näher, aber sie lief nicht davor weg, ging ganz ruhig.
    Erlen war zwischen ihr und der Königin, als sie Pallis’ Zylinder passierte. Sie sah ihn vor sich im Schnee liegen und hatte das Gefühl, dass der Schatten in seinem Inneren eine Spur zu schwarz, zu lebendig war. Genauso wie in Tamsins Zimmer, bevor sie die Hand hineingeschoben und die Sieben Pforten durchschritten hatte.
    »Komm zu mir«, hörte sie die Königin sagen. »Gutes, treues Rentier.«
    Erlen blieb kurz stehen, so als zögere er noch einmal. Er verbarg Maus mit seinem Körper vor den Augen der Königin. Noch einmal sah er zurück zu ihr – und Maus verstand.
    Ohne langsamer zu werden, hob sie den Zylinder vom Boden. Die Dunkelheit im Inneren des Huts wirkte bodenlos und schien nach ihr zu schnappen wie das Fangzahnmaul des nimmermüden Regenschirms, der immer noch im Eis feststeckte. Sie hielt den Zylinder mit beiden Händen an der Krempe, drehte ihn mit der Öffnung nach unten. Ging weiter.
    Erlen bewegte sich wieder. Näherte sich der Königin. Gleich würde er bei ihr sein.
    Maus folgte ihm, verringerte ihren Abstand.
    Jenseits der Königin wimmerte Pallis vor Anstrengung. Sie lag reglos im Schnee, rührte keinen Finger. Rufus hatte den Kopf erhoben und versuchte vergebens, seine letzten Reserven zu mobilisieren.
    Hinter Maus näherte sich das Ende der Eisbrücke. Schabend, scharrend, krachend. Unter ihr rollte der Boden in Wellen nach vorn. Je näher der Abgrund kam, desto kräftiger wurde die Bewegung des Eises.
    »So ist’s gut«, sagte die Königin zum Rentier. Erlen blieb stehen, jetzt direkt vor ihr.
    Maus sprang los. Die letzten vier, fünf Schritte, dann um Erlen herum.
    Die Königin sah sie. Sah den Zylinder in ihren Händen.
    Öffnete den Mund.
    Im selben Moment stieß der Adler herab. Tamsins Krallen fuhren in weißes Haar. Die Königin schrie, der Adler kreischte. Sie schlug mit den Händen über sich und versuchte, sich den Vogel vom Kopf zu zerren.
    Pallis lag derweil ganz still, nur ihre Lippen bewegten sich. Was Maus für Wimmern gehalten hatte, war in Wahrheit eine Folge rätselhafter Silben.
    Maus umrundete die Königin. Die Schwingen des Adlers hätten sie fast von den Füßen gerissen. Erlen machte einen Satz beiseite.
    Maus war jetzt genau hinter der Königin. Keine Armlänge entfernt tobte der Adler in einem Chaos aus schneeweißem Haar. Für einen Moment verlor die Königin Maus aus den Augen.
    Tamsin stieß ein schrilles Kreischen aus, riss sich los und stieg ruckartig aufwärts.
    Ihre Gegnerin fuhr fauchend herum. Durchschaute das Ablenkungsmanöver.
    Maus war schneller. Sie hob den Zylinder. Holte aus.
    Dann stülpte sie ihn mit aller Kraft über den Kopf der Schneekönigin.
     
    *
     
    Das Ende kam so schnell, dass Maus es kaum wahrnahm. Hätte sie im falschen Augenblick geblinzelt, sie hätte es verpasst.
    Mit aller Kraft rammte sie den Zylinder so weit herunter, dass seine Krempe über die Augen der Königin fuhr, über die schlanke, schöne Nase.
    Pallis hob die Stimme. Ihre murmelnde Beschwörung schnitt durch das Schneetreiben.
    Die Königin riss den Mund auf, um zu schreien. Doch so viel Zeit blieb ihr nicht mehr. Der Zylinder fraß sich in Windeseile an ihr herab, verschlang pulsierend ihren Kopf, saugte ihre Schultern in sich hinein, ihren Oberkörper, die Hüften, zuletzt ihre langen weißen Beine.
    Dann fiel er hinab in den Schnee, nur noch ein rotgelber Hut, leicht zerknautscht und nicht besonders modisch.
    Die Königin war fort.
    Pallis verstummte. Rufus kroch durch den Schnee zu ihr
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