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Die Zeitung - Ein Nachruf

Die Zeitung - Ein Nachruf

Titel: Die Zeitung - Ein Nachruf
Autoren: Michael Fleischhacker
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ZUM LETZTEN GELEIT
    In meinem Besitz befindet sich das Faksimile eines Einblattdruckes aus dem Jahr 1502. Es wurde vom Deutschen Museum für Buch und Schrift 1920 in einer Auflage von 300 Exemplaren veröffentlicht. Meines trägt die Nummer 65. Ich habe es in einem Wiener Antiquariat gefunden, ohne es gesucht zu haben. Wie in jeder guten Buchhandlung auch, funktioniert das nach dem analogen Amazon-System: „Warten Sie, ich habe da noch etwas, das Sie interessieren könnte“, sagen die algorithmisch naturbegabten Buchhändler und Antiquare. In das Antiquariat allerdings hatte mich das digitale Amazon-Prinzip gebracht: Auf der Suche nach ein paar älteren Büchern über Zeitungsgeschichte hatte ich auf amazon.de erfahren, dass in dem besagten Antiquariat gut erhaltene Exemplare zu kriegen seien. Warum sollte ich es von Wien nach Deutschland und dann zurück nach Wien transportieren lassen?
    Bei der Abholung der bestellten Bücher also bot mir der Antiquar auch den erwähnten Faksimile-Druck an. Natürlich habe ich ihn gekauft: Es handelt sich um jenes im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek befindliche Blatt, auf dem vor einem halben Jahrtausend das Wort „zeytung“ erstmals in gedruckter Form zu lesen war. „Newe zeytung von orient und auff gange“ heißt es in einer Zwischenüberschrift auf der zweiten Seite. Ich bin also ziemlich authentisch darüber informiert, dass die Insel Lesbos, die 1462 durch Sultan Muhammed II. in türkischen Besitz gekommen, 1500 teilweise rückerobert, im Jahr darauf aber erneut an die Türken gegangen war, nun, gegen Ende 1501, von Venezianern und Franzosen wiedererobert worden ist. Ich bewahre es auf wie andere vielleicht die Taschenuhr ihres Urgroßvaters. Für mich ist es eine Art Selbstvergewisserungsübung in einer über die Jahre gewachsenen Überzeugung: Dass die Zukunft, die gerade in der Gegenwart Gestalt annimmt und zu deren Mitgestaltung es für uns keine Alternative gibt, sehr viel mit Herkunft zu tun hat.

    „Newe zeytung von orient und auff gange.“ Auf dem Einblattdruck aus dem Jahr 1502 findet sich, in einer Zwischenüberschrift auf der Rückseite, zum ersten Mal das Wort „zeytung“ in gedruckter Form.
    Wir alle sitzen, ob beruflich, politisch oder familiär, auf den Schultern anderer. Ob wir ihnen zur Last werden oder sie aus unserer exponierteren Position mit Informationen versorgen können; ob wir die nächsten nach uns noch tragen können oder nicht; ob diese Herkunft ein reiches Erbe oder eine schwere Hypothek ist – zwei Dinge sind gewiss: Erstens, dass wir uns in irgendeiner Weise zu dieser Herkunft verhalten müssen; zweitens, dass wir selbst dann, wenn wir es mit vermeintlich oder tatsächlich disruptiven Veränderungen zu tun haben, nicht dem Irrtum verfallen sollten, dass das Neue mit dem Alten nichts mehr gemein hat. Denn hinter den Klippen revolutionärer Neuerungen kauert nicht selten das Unvordenkliche.
    Wir befinden uns mit dem Faksimile der „Newen zeytung von orient und auff gange“ am Beginn dessen, was Marshall McLuhan die „Gutenberg-Galaxis“ nannte. Knapp ein halbes Jahrtausend, nachdem jene Ära begann, in der mit dem Buch auch die Zeitung Schritt für Schritt – aber bei weitem nicht überall gleichzeitig – zum dominierenden Instrument der gesellschaftlichen Selbstverständigung wurde, fragen sich immer mehr Menschen, ob und wie es denn mit der Zeitung weitergehen werde. Die einen, weil sie wie ich in und mit Zeitungen ihre Berufsbiografien geschrieben haben und sich fragen, ob es irgendwie weitergeht oder eine Umschulung auf „spin doctor“ oder Regierungssprecher angezeigt wäre. Die anderen – und es wird nicht wenige geben, denen beide Anliegen wichtig sind –, weil sie sich um die demokratische Balance sorgen und also fragen, wer denn die Rolle der Zeitungen als vierte, kontrollierende Gewalt im Staat übernehmen könne, falls es eine solche Rolle in legitimer Weise geben sollte.
Marshall McLuhan und die Folgen
    Die Kultur- und Medientheorie beschäftigt sich seit gut einem halben Jahrhundert mit dem Ende der dominierenden Stellung des geschriebenen Wortes im Gewebe von Kultur und Wissen. Am stärksten wurde diese Debatte von dem kanadischen Literaturwissenschaftler Marshall McLuhan 1 geprägt. Der Urheber von so wirkungsvollen Wortprägungen wie „The medium ist the message“ 2 und „global village“, veröffentlichte 1962 sein Buch
The Gutenberg-Galaxy: The Making of Typographic Man
. Darin beschreibt er eine
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