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Die Zeitung - Ein Nachruf

Die Zeitung - Ein Nachruf

Titel: Die Zeitung - Ein Nachruf
Autoren: Michael Fleischhacker
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Beschreibung unseres „Internetzeitalters“, das von „sozialen Netzwerken“ dominiert und von Algorithmen gesteuert wird, nur noch das Netz. Der kam von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Sie hatten in ihrem schon 1977 erschienenen Buch
Rhizom
Netzwerkstrukturen als Paradigma für die neuen Formen der Wissensorganisation identifiziert.
    Man sieht, dass die Medientheorie in dem halben Jahrhundert, das hinter uns liegt, eine beeindruckende Dichte entwickelt hat. Eine große Zahl unterschiedlicher theoretischer Ansätze wurde aufgeboten, um erklären zu helfen, wie, wann und unter welchen Begleitumständen jenes Zeitalter zu Ende ging und geht, das zuvor, so jedenfalls die Theorie, für ein halbes Jahrtausend auf ziemlich konstante Weise unsere Art zu denken und zu kommunizieren geprägt hatte: das Buchzeitalter, das Zeitalter des gedruckten Wortes.
Schmerzhafte Erkenntnisse
    So fein in der Theorie die gegenwärtigen Entwicklungen ausziseliert werden, so grob lässt man die Vergangenheit als eher robusten Block in der Theoriegegend herumstehen. Das muss einen stutzig machen: Es ist doch eigentlich nicht sehr wahrscheinlich, dass die durch die Erfindung des Buchdrucks angestoßene Entwicklung bis zu ihrem Ende ein halbes Jahrtausend später ohne innere Epochenbrüche vonstatten ging. Doch auch die aktuelle Debatte darüber, ob und wie und wie lange die Zeitung überleben kann, ist von ähnlichen Grundannahmen geprägt.
    Vielleicht hat es mit diesem eher holzschnittartigen Blick auf die Vergangenheit zu tun, dass die Medienindustrie auch in der Gegenwart massive Einschätzungsprobleme hat. Die ökonomischen Effekte der digitalen Medien auf die etablierten Strukturen sowohl der Print- als auch der Fernsehbranche wurden zunächst schwer unterschätzt. Diese ignorante Haltung wurde durch das Platzen der „Dotcom-Blase“ rund um die Jahrtausendwende begünstigt: Man begnügte sich mit Häme über die Nerds, die ihre „Träume“, hinter denen keine validen Geschäftsmodelle stünden, teuer an irgendwelche reichen Idioten verkauft hätten, die sich die Zukunft kaufen wollten und nun auf ihren Verlusten sitzen blieben.

    Das renommierteste Magazin veröffentlichte 2006 die Todesnachricht. Verfrüht?
    Aber nachdem Amazon den Buchhandel und diverse Tauschbörsen wie Napster die Plattenindustrie an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatten, spürten auch die Zeitungen den Druck. Im August 2006 sorgte das britische Wirtschaftsmagazin
The Economist
für Aufregung: Unter dem Titel
Who Killed The Newspaper?
wurde ein Dossier über die Zukunft der Branche veröffentlicht, in dem die Autoren die These vertraten, dass es das Internet war, das die Zeitung umbringen würde. Vor allem deshalb, weil es der Grundaufgabe eines Mediums, „Käufer und Verkäufer zusammenzubringen“, besser nachkomme als die Zeitung und so „den Werbern beweisen kann, dass ihr Geld gut eingesetzt ist“. Man berief sich unter anderen auf Philip Meyer, der 2004 in seinem Buch
The Vanishing Newspaper
errechnet hatte, dass im Jahr 2043 die letzte gedruckte Tageszeitung in den Vereinigten Staaten erscheinen würde.
    Seit der
Economist
die Todesnachricht veröffentlichte, sind sieben Jahre vergangen – die Zeitung aber lebt immer noch. Im deutschsprachigen Raum war mit der
Financial Times Deutschland
nur ein prominentes Opfer zu beklagen, die
Frankfurter Rundschau
wurde von der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung
übernommen. Auch die Website newspaperdeathwatch.com verzeichnet seit ihrer Gründung im Mai 2007 in der Rubrik „R. I. P.“ („Rest In Peace“) nur zwölf Tote. Ebenso viele Titel werden unter „W. I. P.“ („Work In Progress“) gelistet: Zeitungen, die entweder ihre Erscheinungsfrequenz reduziert, in ein „hybrides“ Print-Online-Geschäftsmodell gegangen oder auf „online-only“ umgestellt haben. Letzteres hat im Herbst 2013 auch
Lloyd’s List
angekündigt, jenes aus den Schiffslisten am schwarzen Brett von George Lloyds Londoner Café entstandene Marineblatt, das seit 1734 täglich erschien und sich als die älteste Tageszeitung der Welt bezeichnet.
    Angesichts der geringen Zahl an Todesopfern ist es kein Wunder, dass man in der zitatenhungrigen Branche, wenn es um die eigenen Zukunftsaussichten geht, gerne Mark Twain bemüht: „Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertrieben.“ Vor dem Hintergrund der aktuellen Zahlen, vor allem aber der längerfristigen Trends, hört sich das eher an wie das laute Rufen ängstlicher Kinder
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