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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer
Autoren: Kai Meyer
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einem aufmunternden Lächeln hinter der letzten Tür auf der linken Seite verschwand. Eine muffige Wolke Schlafzimmergeruch wehte Maus entgegen.
    Sie fühlte sich hier alles andere als wohl, und schon bereute sie, dass sie das Angebot angenommen hatte. Falls zufällig irgendjemand aus einem der Zimmer kam, konnte sie aus dieser Sackgasse nicht fliehen. Die Tür des Notausgangs in ihrem Rücken erschien ihr auf einen Schlag noch höher und schwerer.
    Angst vor Prügeln hatte sie nicht – so weit waren die anderen Jungen und Mädchen noch nie gegangen –, aber es reichte schon aus, dass sie sich laufend über sie lustig machten. Maus hatte längst aufgehört, sich darüber zu wundern, obgleich sie selbst nie jemandem etwas zu Leide getan hatte. Ihre einzige Sünde war ihre niedere Arbeit. Und ihr Aussehen.
    Vielleicht würde Maxims Uniform daran etwas ändern. Womöglich konnte sie damit ein wenig Achtung gewinnen. Allein diese Vorstellung war das Risiko wert, mitten in der Nacht auf dem Korridor der Männerquartiere herumzustehen.
    Die Tür des Zimmers schwang wieder auf. Maxim trat auf den Flur.
    »Das ging ja schnell«, sagte sie mit scheuem Lächeln.
    In seinen Händen hielt er einen alten Mantel wie ein Lumpenbündel. Ganz zerschlissen und zerknittert.
    »Die Motten waren schneller«, sagte er und klang dabei noch genauso freundlich wie vorhin im Lift. Zum allerersten Mal erkannte Maus, dass Bösartigkeit nicht immer mit Häme und Hohn einhergehen muss; manchmal verbirgt sie sich hinter einer Fassade von Höflichkeit und Anmut.
    Die gegenüberliegende Tür wurde ebenfalls geöffnet. Dann zwei andere, weiter vorne im Gang. Innerhalb eines Augenblicks füllte sich der dunkle Korridor mit halbwüchsigen Jungen in Schlafanzügen. Raunen und Kichern drang Maus entgegen.
    »Was wollt ihr?« Ihre Stimme klang rau und belegt. Ihr Hals war plötzlich genauso verstopft wie der Korridor.
    »Mädchenjunge«, sagte einer. Andere fielen mit ein, und in Windeseile wurde ein geflüsterter Sprechgesang daraus: »Mädchenjunge! Mädchenjunge! Mädchenjunge!«
    Maus stieß mit dem Rücken gegen den Eisenriegel des Notausgangs. Seine Kälte drang durch ihre Uniformjacke wie eine Klinge.
    »Mädchenjunge! Mädchenjunge!«
    »Die Erwachsenen behaupten, du hast das Hotel noch nie verlassen«, sagte Maxim und trat einen Schritt auf sie zu. »Ist das wahr?«
    Ja!, wollte sie ihn anbrüllen. Ja, es ist wahr! Weil ich da draußen nämlich sterben muss, so ist das nun mal!
    Vor nichts, vor wirklich überhaupt nichts, empfand sie solche Furcht wie vor der Welt dort draußen. Sie konnte sich nicht vorstellen, unter freiem Himmel auf einer Straße zu stehen. Der Gedanke an diese Weite, diese Leere, schnürte ihr den Atem ab.
    Sie brachte keinen Laut mehr heraus. Nicht einmal ein Wimmern. Ihr Herzschlag galoppierte.
    Maxims Tonfall blieb liebenswürdig. »Wir haben beschlossen, dass dir eine Menge entgeht, wenn du nie rausgehst. Es wird höchste Zeit, findest du nicht?«
    »Mädchenjunge! Mädchenjunge!«, raunte der heisere Chor. Mehr als ein Dutzend Jungen, die meisten im Stimmbruch.
    »Bitte«, flüsterte Maus. »Ich hab doch keinem was getan.«
    Maxim schüttelte lächelnd den Kopf. »Wir wollen dir auch nichts tun. Versteh doch – wir wollen dir helfen.«
    Er gab einem der anderen Jungen einen Wink – er arbeitete in der Küche, im Fleischraum –, und sogleich packte der feiste Kerl Maus an den Schultern und hob sie hoch wie einen Strauß Trockenblumen. Maxim trat an ihr vorbei, entriegelte die Tür und stieß sie auf.
    Schnee wehte herein. Und eine Kälte, die den Pulk der Jungen aufstöhnen und einen Schritt zurückweichen ließ.
    »Es ist nicht weit bis zum Haupteingang«, versicherte Maxim der schreckensstarren Maus. »Wirklich nicht. Du musst nicht mal um das ganze Hotel herum. Höchstens um die Hälfte.«
    Tränen schossen ihr in die Augen. Und dann trat sie zu, dem Fleischerjungen mit aller Kraft vors Knie. Der heulte auf, ließ sie los, rutschte an der Wand hinunter und hielt sich wimmernd das Bein. Ein paar andere lachten gehässig, aber Maxim brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Zwei weitere Jungen sprangen vor – Pagen aus der Eingangshalle –, ergriffen Maus und drehten sie mit dem Gesicht zur offenen Tür. Sie konnte in der Dunkelheit den Absatz einer eisernen Feuertreppe erkennen. Sonst nichts. Nur Nacht und Schneetreiben.
    Sie begann zu schreien. Sie strampelte, schlug um sich, kratzte, trat und
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