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Ein Fall für Kay Scarpetta

Ein Fall für Kay Scarpetta

Titel: Ein Fall für Kay Scarpetta
Autoren: Patricia Cornwell
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    Am Freitag, dem 6. Juni, regnete es in Richmond. Es begann bei Tagesanbruch und goß in solchen Strömen, daß von den Lilien nur nackte Stengel übrigblieben und der Asphalt und die Gehsteige voller Blätter lagen. Bäche flossen über die Straßen, und auf Rasenflächen und Spielplätzen entstanden Teiche. Das Geräusch von Wasser, das gegen das Schieferdach klopft, begleitete mich in den Schlaf, und während die Nacht sich in dem Dunst des beginnenden Samstags auflöste, hatte ich einen schrecklichen Traum.
    Ich sah ein weißes Gesicht hinter der regennassen Glasscheibe, ein Gesicht, das so formlos und unmenschlich aussah wie die Gesichter von unförmigen Puppen aus Nylonstrümpfen. Mein Schlafzimmerfenster war dunkel, bis plötzlich das Gesicht auftauchte, etwas Böses, das hereinsah. Ich wachte auf und starrte in die Dunkelheit, ohne etwas zu sehen. Ich wußte nicht, was mich geweckt hatte, bis das Telefon erneut klingelte. Ohne lange herumzusuchen, fand ich den Hörer.
    "Dr. Scarpetta?"
    "Ja." Ich tastete nach der Lampe und knipste sie an. Es war zwei Uhr dreißig. Mein Herz pochte wie wild.
    "Pete Marino hier. Wir haben wieder eine. Berkley Avenue 5602. Schätze, Sie kommen wohl besser her."
    Der Name des Opfers, so erklärte er weiter, war Lori Petersen, eine weiße Frau, dreißig Jahre alt. Ihr Ehemann hatte die Tote vor ungefähr einer halben Stunde gefunden.
    Einzelheiten waren nicht nötig. In dem Moment, als ich den Hörer aufnahm und Sergeant Marinos Stimme erkannte, wußte ich Bescheid. Vielleicht wußte ich es bereits, als das Telefon klingelte. Wer an Werwölfe glaubt, fürchtet den Vollmond. Ich hatte angefangen, mich vor den Stunden zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens zu fürchten, wenn der Freitag zum Samstag wird und die Stadt schläft.
    Normalerweise wird der ärztliche Leichenbeschauer, der Bereitschaftsdienst hat, zum Fundort der Leiche gerufen. Aber das hier war nicht normal. Nach dem zweiten Fall hatte ich ausdrücklich darum gebeten, persönlich gerufen zu werden, falls ein weiterer Mord geschehen sollte, egal zu welcher Zeit. Marino war nicht begeistert von dem Gedanken. Von dem Augenblick an, als ich zum Chief Medical Examiner, das heißt zum obersten Gerichtspathologen von Virginia, ernannt worden war, hatte ich Probleme mit ihm. Ich war mir nicht sicher, ob er Frauen im allgemeinen nicht mochte oder ob er nur mich nicht mochte.
    "Berkley's in Berkley Downs, Southside", sagte er herablassend. "Kennen Sie den Weg?"
    Ich gab zu, daß ich ihn nicht kannte, blind kritzelte die Angaben auf den Notizblock, der immer neben meinem Telefon liegt. Ich legte auf und war auch schon aufgestanden, Adrenalin wirkte wie starker Kaffee auf meine Nerven. Im Haus war es ruhig. Ich griff meine schwarze Arzttasche, die vom jahrelangen Gebrauch schon ganz abgewetzt und mitgenommen aussah.
    Die Nachtluft war kühl und feucht, und es brannte kein Licht in den Fenstern der Nachbarhäuser. Ich fuhr mit meinem dunkelblauen Kombi rückwärts aus der Einfahrt und sah zu dem Licht, das über der Veranda brannte, zu dem Fenster im ersten Stock, wo das Gästezimmer lag, in dem meine zehnjährige Nichte Lucy schlief. Das würde ein wei terer Tag im Leben des Kindes werden, an dem ich nicht teilhaben konnte. Ich hatte sie am Mittwoch abend vom Flughafen abgeholt, und bis jetzt hatten wir noch nicht oft gemeinsam gegessen. Auf den Straßen war kein Verkehr, bis ich auf den Parkway kam. Minuten später fuhr ich über den James River. Weit vorn brannten Rücklichter wie Rubine, die Skyline des Stadtzentrums spiegelte sich geisterhaft im Rückspiegel. Zu beiden Seiten breitete sich fächerförmig die Dunkelheit aus, an ihren Rändern feine Ketten aus Lichttupfern. Irgendwo da draußen ist ein Mann, dachte ich. Es konnte jeder sein. Er geht aufrecht, schläft in einem Haus und hat die normale Anzahl Finger und Zehen; er ist wahrscheinlich weiß und viel jünger als ich mit meinen vierzig Jahren. Er ist in nahezu jeder Hinsicht durchschnittlich und fährt vermutlich keinen BMW, besucht keine Bars in teuren Stadtvierteln und keine Bekleidungsgeschäfte auf der Main Street. Aber er könnte es auch tun. Er könnte jeder beliebige sein und war niemand. Mister Niemand. Die Art von Mensch, die man sofort wieder vergißt, auch wenn man zwanzig Stockwerke in einem Aufzug mit ihm gefahren ist.
    Er war zum selbsternannten, unheimlichen Herrscher der Stadt geworden, verfolgte Tausende von Menschen, die er nie gesehen hatte, bis
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