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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman
Autoren: John Boyne
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    1  Die
Montrose
    Antwerpen: Mittwoch, 20 . Juli 1910
    Sie war über einhundertfünfundsiebzig Meter lang und fast ein Achtel so breit. Sie wog etwa sechzehntausendfünfhundert Tonnen und hatte Platz für über achtzehnhundert Passagiere, auch wenn sie heute nur zu drei Vierteln belegt war. Sie bot einen prächtigen, imposanten Anblick, der Rumpf, die Farben strahlten in der Julisonne, und sie schien ungeduldig darauf zu warten, endlich ablegen zu können. Aus ihren Schornsteinen stieg leichter Rauch, und das Wasser der Schelde schlug geräuschvoll gegen ihre Flanke. Die SS
Montrose
war ein Schiff der Canadian Pacific und sollte vom belgischen Antwerpen ins kanadische Quebec fahren, was einer Entfernung von rund dreitausend Meilen oder fünftausend Kilometern entsprach.
    Über zwei Wochen hatte die
Montrose
in der Schleuse von Berendrecht gelegen, während die Mannschaft aus Seeleuten und Ingenieuren sich auf die nächste Reise vorbereitete. Die Bewohner der kleinen belgischen Stadt waren stolz darauf, dass noch nie ein Schiff von ihren Ufern zu einer verhängnisvollen Fahrt aufgebrochen war. Fast zweihundert Angestellte der Canadian Pacific Company würden auf dem Schiff sein, wenn es den Hafen verließ, vom Steuermann am Ruder über die kohlenhäutigen muskulösen Einsiedler, die unten in den Maschinen das Feuer schürten, bis zu den Waisenjungen, die, nachdem die abendlichen Unterhaltungen beendet waren, den großen Bankettsaal ausfegten. Nur wenige von ihnen waren länger im Hafen geblieben. Die
Montrose
hatte Anfang Juli dort festgemacht, und sie wollten ihren Landurlaub lieber im geschäftigen Antwerpen verbringen, wo es genug Wirtshäuser und Huren gab, um alle zufriedenzustellen.
    Ein Taxi hielt neben einer Reihe großer Stahlcontainer, Mrs Antoinette Drake öffnete die Tür und stellte vorsichtig einen ihrer Filzpantoffeln aufs glitschige Pflaster. Voller Abscheu verzog sie den Mund, so schmutzig waren die Steine. Der Pantoffel war dunkellila, genau wie ihr Hut und wie der extravagante Reisemantel, der ihren mächtigen Körper umhüllte wie eine Plane ein Rettungsboot. »Fahrer«, sagte sie ungeduldig, beugte sich vor und klopfte dem Mann mit ihrem behandschuhten Finger auf die Schulter. Sie rollte das »r« in »Fahrer« mit hoheitsvollem Ton. »Fahrer, Sie können doch sicher ein wenig näher ans Schiff heranfahren? Niemand kann von mir erwarten, dass ich da durchlaufe. Da ruiniere ich mir ja die Schuhe. Sie sind neu, wissen Sie. Sie vertragen das Wasser nicht.«
    »Nicht weiter«, antwortete er, ohne ihr eigens das Gesicht zuzuwenden. Sein Englisch war schlecht, aber er machte sich nicht die Mühe, es zu verbessern. Über die Jahre hatte er festgestellt, dass er bei Ausländern nur ein paar feste Ausdrücke brauchte, und bei denen blieb er. »Nicht weiter« gehörte dazu, und schon folgte der nächste: »Drei Shilling, bitte.«
    »Nicht weiter? Was für ein Unsinn! Was redet er da, Victoria?« Mrs Drake sah ihre Tochter an, die in ihrer Geldbörse nach dem Fahrpreis suchte. »Der Mann ist ein Narr. Warum kann er uns nicht näher hinbringen? Das Schiff liegt da drüben. Meinst du, er ist schwer von Begriff? Versteht er mich nicht?«
    »Er darf nicht weiter, Mutter«, sagte Victoria, fischte das Geld aus ihrer Börse und gab es dem Fahrer, bevor auch sie ihre Tür öffnete und ausstieg. »Warte«, fügte sie hinzu, »ich helfe dir. Es ist völlig sicher.«
    »Ach wirklich, das ist doch zu arg«, murmelte Mrs Drake verärgert, während sie darauf wartete, dass ihre siebzehnjährige Tochter um das Taxi herumkam. Victoria war für eine Reise weitaus zweckmäßiger gekleidet und schien sich wegen des nassen Pflasters nicht zu sorgen. »Hören Sie mich, Fahrer? Es geht nicht, dass Sie unser Geld nehmen, ohne Ihre Aufgabe zu erfüllen. Um die Wahrheit zu sagen, das ist eine Schande. Wenn wir in England wären, würden Sie aus dem Auto geholt und ausgepeitscht. Eine Dame meines Alters und Standes hier so ihrem Schicksal zu überlassen!«
    »Aussteigen, bitte«, antwortete der Fahrer in einem angenehmen Singsang. Das war ein weiterer seiner nützlichen Ausdrücke.
    »Wie bitte?«
    »Aussteigen, bitte«, wiederholte er. Er fuhr jeden Tag Touristen zum Hafen und hatte wenig Zeit für ihre Beschwerden, insbesondere wenn es Engländer waren, vor allem Upperclass-Engländer, die zu glauben schienen, sie sollten nicht nur bis ganz ans Schiff herangefahren, sondern auch noch in einer Sänfte an Bord
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