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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman
Autoren: John Boyne
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getragen werden.
    »Das ist doch unglaublich!«, sagte Mrs Drake und konnte über die Unverschämtheit des Mannes nur staunen. »Jetzt hören Sie mir mal zu, Sie …« Sie machte Anstalten, ihr Körpergewicht weiter vorzuwuchten, um ihren Protest zu unterstreichen, vielleicht sogar ein wenig Gewalt anzuwenden, aber da hatte Victoria die Seitentür schon geöffnet. Sie griff hinein, fasste ihre Mutter am Arm und zerrte sie, den Fuß gegen den Reifen gestemmt, aus dem Wagen. So fand sich die massige Antoinette Drake auf dem Pflaster des Antwerpener Hafens wieder, bevor sie sich weiterhin beschweren konnte, dafür war aus dem Inneren des Wagens ein Geräusch wie von einem sich füllenden Vakuum zu hören. »Victoria, ich …«, keuchte Mrs Drake mit eingezogenem Kopf und vorgerecktem Busen, doch der Rest des Satzes wurde ihr aus dem Mund gerissen. Gnädigerweise stieg er ungehört zum Himmel auf. »Victoria, vorsichtig! Kannst du nicht …«
    »Vielen Dank, Fahrer«, sagte Victoria, als ihre Mutter sicher aus dem Wagen war. Mrs Drake versuchte, ihre Würde wiederherzustellen, indem sie sich mit dem Wildlederhandschuh die Falten aus dem Kleid strich.
    »Schau mich bloß an«, murmelte sie. »Sich in so einem Zustand sehen lassen zu müssen!«
    »Es ist alles in Ordnung«, sagte ihre Tochter, ohne ganz bei der Sache zu sein. Sie ließ den Blick über die anderen Passagiere gleiten, die auf das Schiff zustrebten, und schlug die Tür zu. Der Wagen setzte sich sofort wieder in Bewegung.
    »Victoria, ich wünschte, du würdest diese Leute nicht mit solcher Ehrerbietung behandeln«, sagte Mrs Drake und schüttelte mürrisch den Kopf. »Dem Mann auch noch zu danken, nachdem er so mit mir geredet hat. Begreif doch, dass viele von diesen Ausländern Menschen wie dich und mich ausnutzen, sobald wir ihnen gegenüber auch nur die kleinste Schwäche zeigen. ›Schone die Rute nicht‹, das ist mein Wahlspruch, Liebes, und er hat mir immer gute Dienste erwiesen.«
    »Ich weiß«, antwortete Victoria.
    »Diese Menschen verstehen es nicht anders. Tatsächlich respektieren sie dich dann.«
    »
Wir
sind hier die Ausländer, Mutter«, stellte Victoria fest und studierte die Umgebung. »Nicht die anderen. Wir befinden uns in Belgien, erinnerst du dich? Der Mann wollte nicht unfreundlich sein. Es lohnt sich nicht, sich wegen so unwichtiger Dinge aufzuregen.«
    »Es lohnt sich nicht? Drei Shilling haben wir ausgegeben für ein Taxi zum Schiff, und wo sind wir jetzt? Noch eine Meile müssen wir über nasses Pflaster gehen, und wer wird an Bord den Saum meines Kleides reinigen? Ich wollte es zu einer Abendgesellschaft tragen, draußen auf See. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Und meine Beine sind auch nicht mehr die eines jungen Mädchens. Du weißt, wie sehr ich es hasse, zu Fuß zu gehen.«
    Victoria lächelte, hakte sich bei ihrer Mutter unter und führte sie in Richtung Schiff. »Es ist längst keine Meile«, sagte sie geduldig, »es sind vielleicht zweihundert Meter, mehr nicht.« Sie überlegte, ob sie die ältere Frau darauf hinweisen sollte, dass es tatsächlich vier Shilling waren, die sie ausgegeben hatten, und nicht drei, denn sie hatte dem Mann noch ein Trinkgeld gegeben, aber sie entschied sich dagegen. »Wenn wir erst an Bord sind, musst du elf Tage lang keinen Schritt tun, wenn dir nicht danach ist, und ich bin sicher, es gibt ein Zimmermädchen, das dir mit deiner Garderobe helfen wird. Unser Gepäck sollte längst in der Kabine und ausgepackt sein. Wer, denkst du, hat das getan? Ein Mäuschen?«
    Mrs Drake schniefte, weigerte sich aber, ihrer Tochter recht zu geben. Stumm näherten sie sich der Gangway. »Sei nicht so vorlaut«, sagte sie schließlich. »Ich meine nur, dass es eine korrekte und eine inkorrekte Art gibt, etwas zu erledigen, und wenn man es mit einem Untergebenen zu tun hat, sollte man das nicht aus dem Blick verlieren.«
    »Ja, Mutter«, sagte Victoria und hörte sich an wie jemand, der an die Klagen eines kleinen Kindes gewöhnt war. »Aber jetzt sind wir da, also wollen wir uns nicht länger den Kopf darüber zerbrechen.«
    »Und du darfst auch nicht vergessen, wir sind Engländerinnen, noch dazu aus einer bestimmten Gesellschaftsklasse. Wir dürfen uns nicht schikanieren oder ausnutzen lassen, von so einem …
Europäer.
« Sie spuckte das Wort aus wie eine Fliege, die ihr in den Mund geraten war. »Daran müssen wir während unserer Reise immer denken. Schau mal, da möchte ein Junge unsere
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