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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman
Autoren: John Boyne
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Fahrkarten. Oh, sieh dir nur sein Gesicht an. Der hat sich ja seit Wochen nicht gewaschen. Was für ein Dreckspatz!« Sie hob ihren Stock und wedelte damit in Richtung des jungen Mannes, als wollte sie einen vorbeifahrenden Kraftfahrer stoppen. »Halte die Karten bereit, Victoria. Keine unnötigen Höflichkeiten, und komm ihm um Himmels willen nicht zu nahe, er könnte ansteckend sein. Oh, was ist das nur für ein Lärm? Himmel noch mal, bring mich hier weg!«
    Der »Lärm« kam von Bernard Leejik, dem Taxifahrer der Drakes, der heftig auf die Hupe seines Wagens drückte und beinahe einige der
Montrose
zustrebende Reisende auf die Haube genommen hätte. Mr John Robinson musste zur Seite springen, als das Fahrzeug an ihm vorbeischoss, wobei seine Beine um einiges beweglicher schienen als die eines durchschnittlichen siebenundvierzigjährigen Gentlemans. Als ein Mann ruhigen Feingefühls, der jede Art von Aufruhr und Ärger verabscheute, starrte er dem Fahrzeug hinterher. »Diese neuen Automobile werden uns noch alle den Tod bringen«, sagte er, fand sein Gleichgewicht wieder und wandte sich seinem jugendlichen Begleiter zu. »Ich denke, jemand sollte etwas gegen sie unternehmen, bevor wir alle überfahren und getötet werden. Meinst du nicht auch?«
    »Ich bin noch nie in so etwas gefahren … Vater«, kam die Antwort des Jungen so vorsichtig, als probierte er das Wort zum ersten Mal aus.
    Mr Robinson lächelte und schien sich gleichzeitig unwohl zu fühlen. »Na also«, sagte er leise und legte dem Jungen einen Moment lang die Hand auf die Schulter. »Gut gemacht. Du hast doch die Fahrkarten?« Gedankenverloren fuhr er mit der Hand über seine glatt rasierte Oberlippe, wo fast dreißig Jahre lang ein Schnauzbart gewachsen war. Dafür ließ er sich jetzt auf Wangen und Kinn einen Bart stehen, der sich nach vier Tagen bereits bestens entwickelte. Das Gefühl war allerdings noch ungewohnt, und so musste er immer wieder sein Gesicht befühlen. »Nicht wahr, Edmund?«, sagte er genauso merkwürdig formell, wie der Junge gerade »Vater« gesagt hatte.
    »Sie sind in meiner Tasche«, antwortete sein Sohn.
    »Ausgezeichnet. Wenn wir an Bord sind, sollten wir gleich in unsere Kabine gehen. Uns eingewöhnen und ein wenig ausruhen. Ohne großes Aufheben. Auf See können wir dann vielleicht etwas frische Luft schnappen.«
    »Ach nein«, sagte Edmund enttäuscht. »Können wir nicht den Leuten auf dem Kai zuwinken, wenn wir ablegen? Als wir England verlassen haben, hast du es mir schon nicht erlaubt. Können wir es nicht diesmal tun? Bitte!«
    Mr Robinson legte die Stirn in Falten. In den letzten Tagen war er auf fast schon übertriebene Weise darauf bedacht gewesen, keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich und Edmund zu lenken. »Das sind doch nur Leute«, sagte er und hoffte, die Begeisterung des Jungen etwas zu dämpfen. »Leute, die langsam kleiner werden. So aufregend ist das nicht.«
    »Nun, wenn du lieber nicht …«, murmelte Edmund und sah verzagt zu Boden. »Aber es würde mir viel bedeuten. Ich verspreche auch, mit niemandem zu reden. Ich würde nur gerne etwas von der Atmosphäre miterleben. Mehr nicht.«
    »Also gut.« Mr Robinson gab mit einem Seufzen nach. »Wenn es dir so viel bedeutet, weiß ich nicht, wie ich es dir verweigern sollte.«
    Edmund lächelte seinen Vater an und drückte ihm den Arm. »Danke«, sagte er, fügte gleich noch ein »Schau doch nur!« hinzu und deutete nach vorn, wo sich zwei Frauen bei einem uniformierten Besatzungsmitglied zu beschweren schienen. »Da geht der Trubel schon los.«
    »Achte nicht weiter auf die beiden«, sagte Mr Robinson. »Wir zeigen unsere Fahrkarten und gehen an Bord. Es besteht kein Grund, sich in irgendwelche Querelen hineinziehen zu lassen.«
    »Da ist noch eine zweite Schlange«, sagte Edmund, griff in die Tasche und hielt einem anderen Mitglied der Besatzung ihre Tickets hin. Der Mann studierte sie sorgfältig, sah Vater und Sohn eingehend ins Gesicht und hakte ihre Namen auf einer Liste ab.
    »Sie haben Kabine A 4 auf dem Erste-Klasse-Deck«, erklärte er und ahmte ohne großen Erfolg die mühsam eingeübten affektierten Vokale der Oberschicht nach. Mr Robinson hörte gleich, dass der Mann aus dem Londoner East End kam und sich in der Canadian Pacific Company hochgearbeitet hatte. Nun wollte er vorgeben, aus einem besseren Stall zu stammen, als das tatsächlich der Fall war. Das kam davon, wenn man sich der Laufbahn halber unter die Reichen mischte und zu
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