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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart
Autoren: Gabrielle Zevin
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I.
    Ich verteidige meine Ehre
    Am Abend bevor ich in die elfte Klasse kam – ich war so gerade sechzehn –, sagte Gable Arsley, er wolle mit mir schlafen. Nicht in ferner oder absehbarer Zukunft. Nein, sofort.
    Zugegebenermaßen hatte ich keinen besonders guten Geschmack, was Jungen anging. Ich fühlte mich zu denen hingezogen, die es nicht gewohnt waren, um Erlaubnis zu fragen, bevor sie etwas taten. Jungen, die wie mein Vater waren, nehme ich an.
    Wir waren gerade heimgekehrt von einem Mondscheincafé (einem Lokal mit illegalem Kaffeeausschank), das sich am University Place im Kellergeschoss einer Kirche befand. Das war zu der Zeit, als Koffein gesetzlich verboten war, so wie tausend andere Dinge (Papierbesitz ohne Genehmigung, Handys mit Kamera, Schokolade und vieles mehr). Die Gesetze änderten sich derart schnell, dass man ein Verbrechen begehen konnte, ohne es überhaupt zu ahnen. Nicht dass es etwas ausgemacht hätte. Unsere Freunde in Blau waren völlig überfordert. Die Stadt war pleite, und ich würde sagen, rund drei Viertel der Polizisten waren auf die Straße gesetzt worden. Die restlichen hatten keine Zeit für Jugendliche, die sich illegal an Koffein berauschten.
    Ich hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmte, als Gable anbot, mich zurück zu meiner Wohnung zu begleiten. Zumindest nachts war es ein ziemlich gefährlicher Weg vom Café zu dem Haus auf der East Ninetieth, wo ich wohnte, und normalerweise musste ich mich alleine dorthin durchschlagen. Gable wohnte in Downtown und dachte wohl, da ich bisher nicht unterwegs umgekommen war, würde es auch weiterhin gutgehen.
    Wir stiegen hoch zu meinem Apartment, das schon seit Ewigkeiten im Besitz meiner Familie war – genauer gesagt seit 1995, dem Jahr, als meine Großmutter Galina geboren wurde. Galina, die von uns Nana genannt wurde und die ich abgöttisch liebte, starb nun in ihrem Zimmer vor sich hin. Sie hatte die zweifelhafte Ehre, der älteste und kränkste Mensch zu sein, den ich je gekannt hatte. Sobald ich ihre Tür öffnete, hörte ich die Apparate, die ihr Herz und den Rest ihres Körpers am Leben hielten. Die Maschinen waren nur deshalb noch nicht abgestellt worden, wie man es bei jedem anderen getan hätte, weil Nana die Verantwortung für meinen älteren Bruder, meine kleine Schwester und mich trug. Im Kopf war sie übrigens noch völlig klar. Obwohl sie ans Bett gefesselt war, entging ihr so gut wie nichts.
    Gable hatte an jenem Abend vielleicht sechs Espresso getrunken, zwei davon waren mit etwas Prozac (ebenfalls verboten) versetzt, und er war total aufgedreht. Ich will ihn nicht in Schutz nehmen, sondern nur die Umstände erklären.
    »Annie«, sagte er, löste seine Krawatte und setzte sich auf die Couch, »du musst hier doch irgendwo Schokolade haben. Ich weiß es. Los, komm, Schätzchen, gib Daddy, was er braucht!« Es war das Koffein, das aus ihm sprach. Gable hörte sich wie ein anderer Mensch an, wenn er was intus hatte. Ich fand es besonders furchtbar, wenn er sich selbst Daddy nannte. Das hatte er wohl in einem alten Film gehört. Am liebsten hätte ich gesagt: Du bist nicht mein Daddy. Du bist siebzehn Jahre alt, Herrgott nochmal. Manchmal sagte ich das auch, aber meistens ignorierte ich sein Gerede. Mein echter Daddy hatte immer gesagt, wenn man nicht so manches ignoriert, kämpft man sein ganzes Leben lang gegen Kleinigkeiten. Die Schokolade war anscheinend der eigentliche Grund, weshalb Gable mit ins Apartment gekommen war. Ich sagte ihm, dass ich ihm ein Stück geben würde, aber dann müsse er gehen. Am nächsten Tag fing die Schule wieder an (wie gesagt: für mich die elfte Klasse, bei ihm die zwölfte), und ich brauchte meinen Schlaf.
    Wir bewahrten unsere Schokolade in einem Safe hinten im Schrank von Nanas Zimmer auf. Ich versuchte, lautlos an ihrem Bett vorbeizuschleichen, auch wenn das nicht nötig gewesen wäre. Ihre Apparate machten Lärm wie eine U-Bahn.
    In Nanas Zimmer roch es nach Tod, einer Mischung aus älterem Eiersalat (Geflügel war rationiert), überreifen Honigmelonen (Obst war besonders schwer zu bekommen), alten Schuhen und Putzmitteln (Erwerb nur über Gutschein). Ich trat in ihren begehbaren Kleiderschrank, schob ihre Mäntel zur Seite und gab die Kombination ein. Hinter den Waffen lag die Schokolade, eine edelherbe Sorte aus Russland mit Haselnüssen. Ich schob mir einen Riegel in die Tasche und schloss den Safe wieder. Beim Hinausgehen gab ich meiner Großmutter einen Kuss auf die Wange,
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