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Geschenke aus dem Paradies

Titel: Geschenke aus dem Paradies
Autoren: Katie Fforde
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Kapitel 1
    N el tat langsam der Arm weh. Die Mistelzweige, die sich zu ihren Füßen türmten, verkauften sich gut. Die sorgfältig mit roten Bändern zusammengeschnürten Bündel waren ihr bereits ausgegangen, und sie verkaufte jetzt die größeren Äste, die zu dick gewesen waren, um sie klein zu schneiden. Einen davon hielt sie einladend über ihren Kopf, doch langsam erwies er sich als zu schwer.
    Sie wollte ihn gerade durch ein kleineres Exemplar ersetzen, als ein Mann auf sie zukam. Sie hatte ihn vage wahrgenommen, als er am Nachbarstand den Glühweinsirup und die kleinen Büschel getrockneter Blumen und Kräuter betrachtet hatte, die ihre Schöpferin als »Duftsträußchen« bezeichnete. Sie hatte gerade noch Zeit zu bemerken, dass er groß war, einen dunkelblauen Mantel trug und wie ein Städter aussah, als er auch schon eine Hand auf ihren Mistelzweig legte und sie küsste.
    Sie konnte nicht recht fassen, dass es wirklich geschah. Niemand küsst einen Fremden vor den Augen der halben Welt auf die Lippen – oder zumindest küsste niemand Nel. Es war im Nu vorbei, und doch überkam sie, als seine kühlen, festen Lippen sich auf ihre legten, von den Bügeln ihres BHs bis zu den Knien ein seltsames Gefühl. Es raubte ihr den Atem, und sie fühlte sich, als hätte sie eine Grippe – ganz schwummrig im Kopf.
    Es war erstaunlich, wie viele Leute diesen Kuss beobachteten. Nel verkaufte normalerweise nicht auf dem Markt – sie hatte keine Zeit dazu, da sie immer alle Hände voll damit zu tun hatte, ihn zu organisieren. Aber diesmal hielten ihre Waren sie an ihrem Stand fest, und in diesem Moment schien es, als hätten sämtliche Käufer und Verkäufer auf dem Markt den Blick in ihre Richtung gewandt. Sie versuchte, so zu tun, als sei sie nicht rot geworden, nahm die Münzen des Mannes entgegen, reichte ihm den großen Mistelzweig und sah ihm nach, als er weiterging, erleichtert darüber, dass er sie nicht in ein Gespräch verwickelte oder sonst irgendetwas tat.
    Ihre Tochter kam mit blitzenden Augen herbeigelaufen. »Oh oh!«, sagte sie, und Nel hatte den Eindruck, dass die Leute sie daraufhin erst recht anstarrten. »Mum! Wer war das? Schnuckeliger Typ!«
    Nel fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als wolle sie sich die Haare aus den Augen streichen, obwohl sie in Wirklichkeit nur Zeit gewinnen wollte, um sich zu fassen. »Er hat lediglich einen Mistelzweig gekauft, Fleur. Also, wie sieht’s aus bei dir? Bist du schon so weit, dass du für mich übernehmen kannst? Ich bin seit sieben Uhr heute Morgen hier, und ich muss noch mit einer Unmenge von Leuten sprechen.« Ob sie wohl immer noch leuchtend rot im Gesicht war, fragte sie sich?
    Glücklicherweise hatte Fleur aufgehört, ihre Mutter anzusehen, und suchte in ihrer engen Hose und ihrer hellblauen Fleecejacke nach ihrem Handy. »Ich weiß, ich weiß. Bin gleich wieder da. Ich muss nur noch schnell Anna etwas simsen. Wir wollten heute Abend ausgehen.«
    Fleur, achtzehn, blond und entzückend, förderte schließlich ein Handy zu Tage, das kaum größer war als eine Kreditkarte, und tippte drauflos. Warum ein Mensch, für den die Abfassung des kürzesten Aufsatzes eine Herkulesarbeit war, lieber eine SMS verschickte als zu telefonieren, überstieg Nels Begriffe. Was wahrscheinlich daran lag (hatte ihre Tochter ihr erklärt), dass Nel glaubte, man müsse jedes Wort ausschreiben: Sie kannte die Tastaturkürzel nicht und hatte noch nie etwas von Predictive Text gehört. Fleur hatte Nel eine freundliche, wenn auch unverständliche Erklärung gegeben, als ihre Mutter sie wegen der Höhe ihrer Handyrechnung ermahnen wollte. Wie es bei Nel und ihren Kindern so häufig geschah, verkehrten sich die Rollen, und am Ende belehrten sie Nel über Dinge, die sie ihrer Meinung nach wissen sollte, und der elterliche Tadel fiel ins Wasser.
    Lavender, die passenderweise Weizenkissen und mit Lavendel gefüllte Produkte verkaufte, »aus reiner Selbstverteidigung, wegen meines Namens«, verließ zwar ihren Marktstand nicht, aber sie winkte ihr zu und zwinkerte anerkennend.
    Sacha, die in blauen Glaskrügen in Kleinserie selbst hergestellte Schönheitscremes und -wässerchen verkaufte, zeigte mit dem Daumen nach oben.
    Das war das Schlimme, wenn man jeden kannte, dachte Nel, man konnte nichts tun, ohne dabei beobachtet zu werden. Als sie seinerzeit hierher gezogen war, eine junge, unglückliche Witwe, war sie dankbar gewesen für die Anteilnahme und die Fürsorge der Leute in der
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