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Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume

Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume

Titel: Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Autoren: Donna Leon
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    B runetti zählte im Stillen bis vier, wieder und immer wieder. Auf die Weise, so hatte er herausgefunden, ließen sich fast alle anderen Gedanken abschalten. Die Szene vor ihm konnte er damit zwar nicht ausblenden, aber es war ein verheißungsvoller Frühlingstag, und solange er den Blick über die Umstehenden nach oben lenkte, konnte er die Zypressenwipfel und den leicht bewölkten Himmel betrachten, und was er sah, gefiel ihm. Wenn er den Kopf nur ein klein wenig drehte, sah er aus den Augenwinkeln die hohe Ziegelrnauer, hinter der der Turm von San Marco aufragen musste. Das Zählen wirkte als geistige Übung so ähnlich, als ob man, wenn es einen fror, die Schultern einzog. Hoffte man damit, der Kälte weniger Angriffsfläche zu bieten, so mochte es hier den Schmerz verringern, wenn er sich dem Geschehen mit seinen Gedanken nicht aussetzte.
    Paola, die rechts neben ihm stand, hakte sich bei ihm unter, und sie setzten sich gemeinsam in Bewegung. Zu seiner Linken hatte er seinen Bruder Sergio, dessen Frau und zwei ihrer Kinder. Raffi und Chiara folgten hinter ihm und Paola. Mit einem matten Lächeln, das sich im Nu in der Morgenluft verflüchtigte, wandte er sich nach den beiden um. Während Chiara zurücklächelte, senkte Raffi den Blick.
    Brunetti presste seinen Arm gegen Paolas; sein Blick ruhte auf ihrem Scheitel. Links hatte sie sich das Haar hinters Ohr gestrichen, und er sah, dass sie die gold gefassten Lapislazuliohrringe trug, die er ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Das Blau des Ohrschmucks war etwas heller als das ihres Mantels: Sie hatte den dunkelblauen gewählt. Wann, fragte er sich, war die ungeschriebene Regel abgeschafft worden, dass man bei Beerdigungen schwarz zu tragen habe? Das Begräbnis seines Großvaters fiel ihm ein, wo die ganze schwarz verhüllte Familie, allen voran die Frauen, ausgesehen hatten wie gemietete Trauergäste im viktorianischen Roman, den er zu der Zeit freilich noch nicht kannte.
    Damals hatte der ältere Bruder seines Großvaters noch gelebt und war auf ebendiesem Friedhof unter ebendiesen Bäumen hinter dem Sarg hergegangen, über den ein Priester vermutlich die gleichen Gebete gesprochen hatte wie der heute. Brunetti erinnerte sich, dass der alte Mann einen Klumpen Erde von seinem Hof unweit von Dolo bei sich trug - den Hof gab es schon lange nicht mehr, er hatte der Autostrada und den Fabriken weichen müssen. Während sie stumm das offene Grab umstanden, in das der Sarg hinabgelassen wurde, hatte der Großonkel - er war mindestens neunzig - sein Taschentuch hervorgeholt, es auseinandergefaltet, einen kleinen Brocken Erde herausgeklaubt und auf den Sargdeckel geworfen.
    Diese Geste zählte zu den quälenden Erinnerungen aus Brunettis Kindheit, denn er begriff nicht und keiner aus der Familie hatte ihm erklären können, wieso der alte Mann seine eigene Erde mitgebracht hatte. Jetzt, in der Rückschau, beschlichen ihn allerdings Zweifel, ob die ganze Szene womöglich bloß der Phantasie eines überreizten Sechsjährigen entsprungen war, den all die vielen schwarz verhüllten Mensehen ebenso verwirrten wie die hilflosen Bemühungen seiner Mutter, ihm, ihrem kleinen Sohn, den Tod zu erklären.
    Jetzt wusste sie wohl Bescheid. Oder auch nicht. Für Brunetti lag der Schrecken des Todes gerade darin, dass jede Gewissheit erlosch, die Toten also aufhörten zu wissen, zu verstehen, ja, dass für sie einfach alles zu Ende war. Dabei waren seine frühen Jahre durchaus von religiösen Mythen geprägt gewesen: das schlafende Jesuskind in seiner Krippe, die Auferstehung des Fleisches und die Verheißung einer besseren Welt für alle guten und frommen Menschen.
    Lauter Dinge, an die sein Vater nie geglaubt hatte: Auch das gehörte zu den Konstanten aus Brunettis Kindheit. Ein verschlossener Nihilist, der seine offenbar tiefgläubige Frau stillschweigend gewähren ließ, selbst aber nie zur Kirche ging, ja sich, wenn der Priester das Haus segnen kam, jedesmal verdrückte und weder an Taufe, Erstkommunion noch Firmung seiner Kinder teilnahm. Darauf angesprochen, murmelte Brunetti senior etwas von »sciocchezze« oder »roba da donne«, ohne sich weiter auf das Thema einzulassen. Seinen beiden Söhnen ließ er die Wahl, ob sie ihm in der Überzeugung folgen wollten, Religionsausübung sei dummer Weiberkram oder etwas für dumme Frauen. Am Ende aber, dachte Brunetti, hatten sie ihn doch noch gekriegt. Ein Priester hatte dem sterbenden Vater im Ospedale Civile die
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