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Das Vermächtnis der Eszter

Das Vermächtnis der Eszter

Titel: Das Vermächtnis der Eszter
Autoren: Sándor Márai
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1

    Was Gott mit mir noch vorhaben mag, weiß ich nicht. Aber bevor ich sterbe, will ich die Geschichte des Tages aufschreiben, an dem Lajos zum letzten Mal bei mir war und mich ausgeraubt hat. Seit drei Jahren schiebe ich diese Arbeit vor mir her. Jetzt habe ich das Gefühl, eine nicht zu überhörende Stimme dränge mich, die Geschehnisse jenes Tages – und alles, was ich über Lajos weiß – festzuhalten, denn das sei mein Auftrag, und mir bleibe nicht mehr viel Zeit. Eine solche Stimme ist nicht mißzuverstehen. Und deshalb gehorche ich, in Gottes Namen.
    Ich bin nicht mehr jung, gesund auch nicht, und ich werde bald sterben. Habe ich noch Angst vor dem Tod? … Der Sonntag, an dem Lajos zum letzten Mal hier bei uns war, hat mich auch von dieser Angst geheilt. Vielleicht liegt es an der vergangenen und nicht sehr gnädigen Zeit, vielleicht an der Erinnerung, die genauso ungnädig ist, vielleicht aber an einer besonderen Gnade, die, so lehrt es meine Religion, manchmal auch den Unwürdigen und Verstockten zuteil wird, oder vielleicht einfach an der Erfahrung und am Alter, daß ich dem Tod ruhig entgegenblicke. Das Leben hat mich auf so wunderbare Art beschenkt und mich so vollkommen ausgeraubt … Was kann ich noch erwarten? Ich muß sterben, weil das die Ordnung der Dinge ist und weil ich meine Pflicht getan habe.
    Ein großes Wort, ich weiß, und jetzt, da ich es geschrieben sehe, erschreckt es mich ein wenig. Ein hochmütiges Wort, für das man dereinst vor jemandem einstehen muß. Wie lange hat es gedauert, bis ich meine Pflicht erkannt habe, und wie widerstrebend, ja, schreiend und verzweifelt zappelnd, habe ich endlich gehorcht. Zum ersten Mal habe ich da gespürt, daß der Tod Erlösung bedeuten kann, zum ersten Mal wurde mir bewußt, daß der Tod Auflösung und Frieden ist. Nur das Leben ist Kampf und Schmach. Wie seltsam war doch dieser Kampf! Wer hatte ihn angeordnet, warum war er unvermeidlich? Hatte ich nicht alles getan, um ihm zu entgehen? Doch der Feind hat mich aufgespürt. Heute weiß ich, daß es nicht anders sein konnte; wir sind an unsere Feinde gefesselt, und auch sie entkommen uns nicht.

2

    Wenn ich ehrlich sein will – und welchen Sinn hätte sonst diese Niederschrift? –, muß ich bekennen, daß ich in meinem Leben und in meinen Handlungen keine Spur jenes biblischen Zorns, jener Erregung, ja, nicht einmal der Bestimmtheit und Härte zu entdecken vermag, wie sie mitklangen, wenn ich vor Fremden meine Ansichten über Lajos und mein Schicksal laut werden ließ. »Meine Pflicht erfüllen« – was für ein hartes, theatralisches Wort! Man lebt … und merkt eines Tages, daß man seine Pflicht »erfüllt« oder »nicht erfüllt« hat. Allmählich glaube ich, daß die großen, endgültigen Entscheidungen, die unserem Schicksal seinen besonderen Umriß geben, viel weniger bewußt sind, als wir das später in den Stunden der Rückschau, der Erinnerung meinen. Ich hatte Lajos damals schon zwanzig Jahre nicht mehr gesehen und glaubte, gegen die Erinnerung gefeit zu sein. Dann kam eines Tages ein Telegramm, das eher einem Operntext glich, genauso theatralisch und gefährlich kindisch und verlogen wie alles, was Lajos zwanzig und noch mehr Jahre zuvor mir und anderen geschrieben und gesagt hatte … So großspurig, so vielversprechend, so geheimnisvoll und auf durchsichtige Art verlogen, verlogen!
    Ich ging zu Nunu in den Garten, mit dem Telegramm in der Hand, blieb auf der Veranda stehen und sagte laut: »Lajos kommt zurück!«
    Ich weiß nicht, wie meine Stimme in dem Augenblick klang. Wahrscheinlich hat sie sich nicht gerade vor Freude überschlagen. Ich muß geredet haben wie eine Schlafwandlerin, die eben geweckt worden ist. Zwanzig Jahre hatte dieses mondsüchtige Schlafwandeln gedauert. Zwanzig Jahre lang war ich am Rand eines Abgrunds entlangspaziert, Schritt für Schritt, ruhig, lächelnd. Jetzt war ich aufgewacht und hatte die Wirklichkeit gesehen. Aber es schwindelte mir nicht mehr. In der Realität, sei es die des Lebens oder die des Todes, ist etwas Beruhigendes.
    Nunu war dabei, die Rosen hochzubinden. Und blickte mich so zwischen den Rosen von unten her an, blinzelte in die Sonne, und alt und ruhig sagte sie: »Ja, natürlich.«
    Sie arbeitete weiter. Und fragte noch: »Wann kommt er?«
    »Morgen«, sagte ich.
    »Gut«, sagte sie. »Dann will ich das Silber wegschließen.«
    Ich mußte lachen. Aber Nunu blieb ernst. Später setzte sie sich zu mir auf die Steinbank und las das
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