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Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht

Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht

Titel: Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
Autoren: Henning Mankell
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    Etwas hat er vergessen, das weiß er genau, als er aufwacht. Etwas, das er geträumt hat in dieser Nacht. Etwas, an das er sich erinnern sollte.
    Er versucht, sich zu erinnern. Aber der Schlaf ist wie ein schwarzes Loch. Ein Brunnen, der nichts von seinem Inhalt preisgibt.
    Dabei habe ich nicht von den Stieren geträumt, denkt er. Da müßte ich jetzt verschwitzt sein, so als hätte ich während der Nacht ein Fieber ausgeschwitzt. Diese Nacht haben mich die Stiere in Ruhe gelassen.
    Er liegt regungslos in der Dunkelheit und horcht. Die Atemzüge seiner Frau an seiner Seite sind so schwach, daß er sie kaum wahrnehmen kann.
    Eines Morgens wird sie tot neben mir liegen, ohne daß ich es merke, denkt er. Oder ich werde tot sein. Einer von uns vor dem anderen. Irgendeine Morgendämmerung wird die Bedeutung haben, daß einer von uns einsam übriggeblieben ist.
    Er sieht auf die Uhr, die auf dem Tisch neben dem Bett steht. Die Zeiger leuchten und zeigen auf Viertel vor fünf.
    Warum bin ich aufgewacht, denkt er. Normalerweise schlafe ich bis halb sechs. So habe ich es über vierzig Jahre lang gemacht. Warum wache ich jetzt auf?
    Er horcht in die Dunkelheit hinaus und ist plötzlich hellwach.
    Irgend etwas
ist anders. Etwas ist nicht mehr so, wie es bisher war.
    Vorsichtig tastet er mit der einen Hand, bis er das Gesicht seiner Frau erreicht. Mit den Fingerspitzen fühlt er, daß sie |6| warm ist. Es ist also nicht sie, die gestorben ist. Noch ist keiner von ihnen einsam zurückgeblieben.
    Er horcht in die Dunkelheit hinaus.
    Das Pferd, fährt es ihm durch den Kopf. Es wiehert nicht. Deshalb bin ich aufgewacht. Die Stute wiehert sonst immer nachts. Das höre ich, ohne wirklich wach davon zu werden, und in meinem Unterbewußtsein weiß ich, daß ich weiterschlafen kann.
    Vorsichtig steht er aus dem knarrenden Bett auf. Vierzig Jahre lang haben sie es schon. Es war das einzige Möbelstück, das sie kauften, als sie geheiratet haben. Und es ist das einzige Bett, das sie in ihrem Leben besitzen werden.
    Während er über den Holzboden zum Fenster geht, spürt er, wie ihm das linke Knie weh tut.
    Ich bin alt, denkt er. Alt und verbraucht. Jeden Morgen bin ich beim Aufwachen wieder aufs neue überrascht, daß ich schon siebzig Jahre alt bin.
    Er sieht in die Winternacht hinaus. Man schreibt den 8.   Januar 1990, und Schnee ist in diesem Winter in Schonen noch nicht gefallen. Die Außenlampe an der Küchentür wirft ihr Licht über den Garten, die kahlen Kastanienbäume und die dahinter liegenden Felder. Er schaut blinzelnd zum Nachbarhof hinüber, auf dem Lövgrens wohnen. Das weiße, niedrige und langgestreckte Haus ist dunkel. Am Stall, der im rechten Winkel zum Wohnhaus liegt, hängt über der schwarzen Stalltür eine Lampe, die ein milchiges Licht verbreitet. Dort steht die Stute in ihrer Box, und dort wiehert sie plötzlich unruhig in den Nächten.
    Er horcht in die Dunkelheit hinaus.
    Im Bett hinter ihm knarrt es.
    »Was machst du?« murmelt seine Frau.
    »Schlaf weiter«, antwortet er. »Ich vertret’ mir nur etwas die Beine.«
    »Hast du Schmerzen?«
    »Nein.«
    |7| »Dann schlaf weiter. Steh nicht da und hol dir eine Erkältung.«
    Er hört, wie sie sich auf die andere Seite dreht.
    Wir haben uns einmal geliebt, denkt er. Aber er wehrt sich gegen den eigenen Gedanken. Das ist ein viel zu feines Wort. Lieben. Das ist nichts für Leute wie uns. Ein Mensch, der über vierzig Jahre lang Bauer gewesen ist, immer gebeugt über den schweren schonischen Lehmboden, nimmt das Wort »Lieben« nicht in den Mund, wenn er von seiner Frau spricht. In unserem Leben ist die Liebe immer etwas ganz anderes gewesen   …
    Er betrachtet das Nachbarhaus, kneift die Augen zusammen, versucht, das Dunkel der Winternacht zu durchdringen.
    Wiehere, denkt er. Wiehere in deiner Box, damit ich weiß, daß alles wie immer ist. Damit ich mich noch ein Weilchen in die Federn verkriechen kann. Der Tag eines pensionierten und schmerzgeplagten Landwirts ist auch so schon lang und trostlos genug.
    Auf einmal merkt er, daß er das Küchenfenster des Nachbarhauses betrachtet. Irgend etwas ist anders. In all den Jahren hat er ab und zu ein Auge auf die Fenster der Nachbarn geworfen. Jetzt gibt es da plötzlich etwas, das anders aussieht. Oder ist es nur die Dunkelheit, die ihn verwirrt? Er schließt seine Augen und zählt bis zwanzig, um sie auszuruhen. Dann schaut er erneut zum Fenster und ist sich jetzt sicher, daß es offensteht. Ein Fenster, das
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