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Das Vermächtnis der Eszter

Das Vermächtnis der Eszter

Titel: Das Vermächtnis der Eszter
Autoren: Sándor Márai
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das Gute definiert ist. War er gemein? Das Gefühl hatte ich nie. Er log, das schon; er log, so wie der Wind weht, mit natürlicher Kraft und Lust. Er konnte unglaublich farbig lügen. Mir zum Beispiel log er vor, er liebe mich, nur mich. Dann heiratete er Vilma, meine Schwester. Später aber habe ich gemerkt, daß er das alles nicht geplant hatte, daß er nie in intriganter, verschlagener, gemeiner Absicht handelte. Er hatte gesagt, er liebe mich – und noch heute zweifle ich nicht an seinen Worten –, bloß heiratete er dann Vilma, vielleicht weil sie hübscher war, vielleicht weil an dem Tag gerade der Ostwind wehte, vielleicht weil Vilma es so wollte. Lajos hat nie gesagt, warum.
    In der Nacht, als wir Lajos zurückerwarteten – zum letzten Mal im Leben, wie ich wohl wußte –, ging ich lange nicht ins Bett, ich schob Erinnerungsstücke hin und her, bereitete mich auf den Besuch vor, las die alten Briefe von Lajos. Noch heute bin ich fest überzeugt – und beim Lesen der Briefe überkam mich diese Ahnung wieder merkwürdig stark –, daß in ihm eine Urkraft steckte, vergleichbar mit den Wasserläufen in den Alpen, die den Berg kreuz und quer durchziehen und ziel- und spurlos in seinen Tiefen verschwinden. Niemand nutzte, niemand lenkte diese Kraft. Jetzt, als ich am Vorabend seines spukhaften Besuchs seine Briefe wiederlas, wunderte ich mich über das Ausmaß dieser ziellosen Energie. In jedem seiner Briefe sprach er so kraftvoll zu mir, daß er damit nicht nur einen Menschen, und schon gar nicht nur eine einzige gefühlvolle Frau, sondern ganze Menschengruppen, womöglich Massen in Bewegung hätte setzen können. Was er in diesen Briefen zu sagen hatte, war nicht besonders »tief«, und von schriftstellerischer Begabung war in den abgedroschenen Wendungen und dem schludrigen Stil auch nichts zu spüren, und doch war die Art, wie er sich zu Wort meldete, in jeder einzelnen Zeile unmißverständlich seine Art, seine allein! Immer beschrieb er die Wirklichkeit, eine eingebildete Wirklichkeit, die er soeben kennengelernt hatte und von der er mir dringend Mitteilung machen wollte.
    Von seinen Gefühlen, von seinen Plänen schrieb er nie; die Stadt aber, in der er sich eben aufhielt, beschrieb er so eindringlich, daß der Briefleser die Straßen sah und auch das Zimmer, in dem Lajos über seinem Brief saß; man hörte die Stimmen der Menschen, die am Vortag etwas Lustiges oder Intelligentes zu ihm gesagt hatten; er berichtete von den großartigen Plänen, mit denen er sich gerade trug – und das alles kam mit wundersamer Wirklichkeitsnähe zum Leben. Bloß war es – und das mochte auch ein ungeübter Leser spüren – nicht wahr, besser gesagt, es war irgendwie, irgendwo anders wahr, als es Lajos beschrieb, und die Stadt, die er mit der Akribie eines Geographen darstellte, gab es nur auf dem Mond. Das war die Wirklichkeit, die er in seinen Briefen getreulich und exakt heraufbeschwor. Und genau auf diese Art entwarf er auch Menschen und Landschaften, mit solch sachgerechter, ernster Sorgfalt.
    Ich las die Briefe und fühlte eine gewisse Rührung. Vielleicht waren wir zu schwach für ihn. Gegen Mitternacht erhob sich ein starker, warmer Wind; ich stand auf und schloß die Fensterläden. Aus weiblicher Schwäche, die ich gar nicht beschönigen will, stellte ich mich um diese mitternächtliche Stunde vor den großen Spiegel, der einst über Mamas Frisiertisch hing, und betrachtete mich gründlich. Es war mir bewußt, daß ich noch nicht alt war. Die vergangenen zwanzig Jahre hatten aus einer seltsamen, herben Gunst des Schicksals wenig Spuren hinterlassen. Unansehnlich war ich nicht, aber auch nicht von der Schönheit, die die Männer anzieht; ich hatte ihnen eher Respekt und zaghafte Sehnsüchte eingeflößt. Ich war nicht dick geworden, dank der Gartenarbeit oder dank einer physischen Anlage: Ich war groß und gerade gewachsen und gut proportioniert. In den letzten Jahren war ich ein bißchen grau geworden; aber die grauen Haare vermischten sich unauffällig mit dem hellen Blond, das schon immer mein herausragendstes Merkmal war. Um Augen und Mund hatte mir die Zeit winzige, feine Runzeln gezeichnet; auch meine Hand, gröber geworden durch die Hausarbeit, war nicht mehr wie früher. Und doch betrachtete ich mich jetzt wie eine Frau, die ihren Liebhaber erwartet. Das war natürlich lächerlich; ich war fünfundvierzig vorbei, Lajos lebte schon lange mit einer anderen Frau, hatte sie vielleicht sogar geheiratet.
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