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Das Vermächtnis der Eszter

Das Vermächtnis der Eszter

Titel: Das Vermächtnis der Eszter
Autoren: Sándor Márai
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Telegramm. »Wir kommen mit dem Automobil«, schrieb Lajos. Aus dieser Mehrzahl durften wir schließen, daß er die Kinder mitbrachte. »Wir sind zu fünft«, hieß es weiter. Nunu dachte an die Hähnchen, an die Milch, an die Schlagsahne. Wer mochten die beiden anderen sein, fragten wir uns. »Wir bleiben bis zum Abend«, meldete das Telegramm noch, und dann folgte eine aufgeblasene Wortklauberei, denn Lajos vermochte mit Wörtern nie sparsam umzugehen, nicht einmal in einem Telegramm.
    »Fünf Personen«, sagte Nunu, »sie kommen am Vormittag und bleiben bis zum Abend.« Ihre alten, blutleeren Lippen bewegten sich lautlos, sie rechnete, zählte zusammen. Die Kosten für das Mittag- und das Abendessen. Dann sagte sie: »Ich habe gewußt, daß er noch einmal zurückkommt. Er wagt es nicht mehr, allein zu kommen! Er bringt Unterstützung mit, die Kinder und fremde Leute. Aber hier gibt es nichts mehr zu holen.«
    Wir saßen im Garten und sahen einander an. Nunu denkt, sie wisse alles von mir. Vielleicht kennt sie tatsächlich die Wahrheit, die endgültige, schlichte Wahrheit, die wir im Leben mit so vielen Lumpen verhüllen. Nunus »Allwissenheit« kratzte immer ein bißchen an meinem Stolz. Aber sie war so gut zu mir, und das auf eine so trockene, kluge Art. Am Ende ergab ich mich ihr immer. In dem undurchdringlichen Nebel, der in jenen Jahren mein Leben einhüllte, war Nunu die Laterne, ein sanftes, schwaches Licht, nach dem man sich richten konnte. Ich wußte, daß sie auch jetzt nicht an so gefährliche und beängstigende Möglichkeiten dachte wie ich, daß sie scherzte, wenn sie als erstes vom Silber sprach, das man wegschließen mußte, weil Lajos kam. Das ist übertrieben, dachte ich, Nunu macht sich über ihn lustig. Und gleichzeitig wußte ich, daß Nunu im letzten Augenblick das Silber tatsächlich versorgen würde und daß sie noch später, wenn es nicht mehr um irgendwelches Silber ginge, sondern um das Ganze, das man nicht verstecken konnte, daß sie dann in meiner Nähe sein würde, mitsamt ihren Schlüsseln, in ihrem schwarzen Festtagskleid, runzlig und schweigsam, blinzelnd auf der Hut. Ich wußte aber auch, daß mir in dem Augenblick keine Menschenseele mehr helfen konnte, auch Nunu nicht.
    Doch das alles »wußte« ich umsonst; und plötzlich war ich sogar guter Laune, als drohte gar keine Gefahr. Ich erinnere mich, daß ich mit Nunu scherzte. Wir saßen im Garten, horchten auf die herbstlich und trunken summenden Wespen und sprachen lange und ruhig von Lajos, von den Kindern und von Vilma, meiner verstorbenen Schwester. Wir saßen vor dem Haus, unter dem Fenster, hinter dessen Läden Mama fünfundzwanzig Jahre zuvor gestorben war. Wir saßen den Linden und Vaters Bienenstöcken gegenüber, die allerdings leer waren. Nunu mochte sich nicht mit Bienen abplagen, und so hatten wir eines Tages alle achtzehn Völker verkauft. Es war September, sanfte, laue Tage. Wir fühlten uns sicher, in jener vertrauten Sicherheit des Schiffbruchs, aber auch des wunschlosen Glücks. Ach, dachte ich, was kann Lajos hier noch wegnehmen? Das Silber? Lächerlich, was sind die paar verbogenen Löffel schon wert? Dann rechnete ich nach, daß Lajos schon fünfzig vorbei war. In jenem Sommer war er dreiundfünfzig geworden. Mit Silberlöffeln konnte man ihm kaum mehr helfen; und wenn doch, dann sollte er sie eben nehmen.
    Nunu dachte wohl ähnliches. Sie seufzte, stand auf, ging ins Haus, wobei sie auf der Schwelle noch sagte: »Bleib nicht zu lange mit ihm allein. Laß Laci, Onkel Endre und Tibor zum Mittagessen kommen, so wie an anderen Sonntagen, wenn ihr zusammen seid und mit den Geistern spielt. Lajos hat vor Endre schon immer Angst gehabt; er ist ihm auch noch etwas schuldig, glaube ich. Wem denn nicht?« Sie mußte lachen.
    »Das haben die vergessen«, sagte ich und lachte auch.
    Schon war ich dabei, ihn zu schützen. Was blieb mir auch anderes übrig? Er ist der einzige Mensch in meinem Leben, den ich geliebt habe.

3

    Das Telegramm mit der Schreckens- oder Freudenbotschaft war am Samstag gegen Mittag gekommen. An den Nachmittag und die Nacht vor Lajos’ Ankunft erinnere ich mich nur noch ungenau. Nein, Nunu hatte recht, ich hatte keine Angst mehr vor Lajos. Angst hat man vor jemandem, den man liebt oder haßt, der sehr gut oder sehr grausam ist oder der mit Absicht gemein gewesen ist. Lajos hingegen hatte mir nie etwas Schlechtes angetan, Gutes zwar auch nicht, jedenfalls nicht in dem Sinn, wie in den Schulbüchern
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