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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig
Autoren: Christa Wolf
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Verletzt.
    Etwas klagt, wortlos. Ein Ansturm von Worten gegen die Stummheit, die sich beharrlich ausbreitet, zugleich mit der Bewußtlosigkeit. Dieses Auf- und Abtauchen des Bewußtseins in einer sagenhaften Urflut. Inselhaft das Gedächtnis. Wohin es sie jetzt treibt, dahin reichen die Worte nicht, das soll einer ihrer letzten klaren Gedanken sein. Es klagt. In ihr, um sie. Niemand da, der die Klage annehmen könnte. Nur die Flut und der Geist über den Wassern. Seltsame Vorstellung. Sie flüstert, aus altgeübter Höflichkeit, mit ihrer dicken lahmen Zunge: Daß Krankenwagen so schlecht gefedert sind. Ein Satz, den der Arzt, der auf dem Notsitz neben ihrer Trage hockt, mit Eifer, merkwürdig entzückt, aufgreift. Eine Schande das, beteuert er mehrmals, eine wahre Schande, alle Proteste dagegen seien erfolglos geblieben. Nun ermahnt er sie, den linken Arm stillzuhalten. Aus dem ovalen durchsichtigen Behältnis, das über ihr im Rhythmus des Krankenwagens schüttert, wird Tropfen um Tropfen über Schläuche in ihre Armvene geleitet. Elixier. Lebenselixier. Mit der Rechten muß sie sich an den Bügel klammern, der von der Wagendecke herunterhängt, damit sie nicht von der harten Pritsche geschüttelt wird. Der Wundschmerz nimmt zu, das sei unter diesen Umständenkein Wunder, sagt der Arzt grimmig. Eine lange Fahrt. Steigen und Sinken. Absinken. Daß immer dann das Klagen lauter wird. Abfahrt. Eine neue, hohe Welle der gleichen Flut, die nimmt mich mit. Untertauchen. Untergetauchtwerden. Dunkel. Stille.
    Diese Stimme. Lästig. Zwei Silben, beharrlich wiederholt, die ihr allmählich bekannt vorkommen. Ein Name. Ihr Name. Warum redet der mich mit meinem Vornamen an. Ein junges Männergesicht, von einem schmalen Bartstreifen umrahmt. Dicht über ihr. Zu dicht über ihr. Er ruft immer wieder fordernd diesen Namen, zu laut. Es stört sie. Was will er denn. Sie soll antworten, aber das kann sie nicht. Mühsam kann sie nicken. Endlich läßt er von ihr ab. – Sie hat verstanden. – Nichts rüttelt mehr. Mit den Fingerspitzen tastet sie den Untergrund ab: weich. Über ihr zwei Tropfbehälter. Eine weiß getünchte Decke. Ein Raum, ein weißer Raum. Eine Art Warteraum, empfindet sie, unruhig, zugig. Sie schließt die Augen und fällt in ihren grauschwarzen Innenraum, schwebt über dem stillen Wasser. Des Menschen Leben gleicht dem Wasser. – Hallo. Bleiben Sie wach. – Lästig. Sie sinkt. Ein Klopfen von innen her schreckt sie auf, sie erkennt es nicht gleich. So schlägt das Herz. Im Galopp. Jemand ruft, schon wieder. Alle Kraft versammeln, um die Augen zu öffnen. Das Gesicht eines ganz jungen Mädchens, ein rosa Kittel. Sie formt, unhörbarwohl, ein paar Wörter, das Wort »Herz« kommt vor, das Mädchen versteht nicht. Quälend langsam faßt es nach ihrem Puls. – Herr Doktor, Herzrasen. – Neben dem Gesicht des viel zu jungen Arztes auf einmal dein Gesicht. Was willst du, wo kommst du her. Ihr ist, als sollte sie etwas fühlen. Sagst du etwas? Ich sinke. Das Herz rast. Ich höre Wörter. Pulsfrequenz. Paroxysmal. Sie streifen den äußersten Rand ihres Bewußtseins. Ich sinke vorbei an dem todesnahen Gesicht meiner Mutter. Ich stehe am Fenster ihres Krankenzimmers und sehe mich mit ihren Augen, als schwarzen Umriß gegen das Sommerlicht. Ich höre mich sagen: Sie sind in Prag einmarschiert. Und höre meine Mutter flüstern: Es gibt Schlimmeres. Sie wendet den Kopf zur Wand. Es gibt Schlimmeres. Sie stirbt. Ich denke an Prag.
    Daß es so viele Innenräume gibt. Jetzt gleitet sie in einen hinein, in dem es böse zugeht. Hier herrscht Höllenlärm, ein Schandlärm, von fernher spürt sie einen Impuls, sich zu beschweren, aber dem Impuls fehlt der Zorn, der ihn aufladen müßte. Statt dessen will jemand von ihr wissen, was er ihr spritzen soll. Das Medikament, schreit er. Erinnern Sie sich. – Sie wird hochgeschleudert, öffnet die Augen. Zuviel Licht. Der Mund des Arztes formt einen Namen, der ihr nicht bekannt vorkommt, sie bewegt verneinend den Kopf. – Versuchen wir es damit, hört sie. – Sicher scheint er sich nicht zu sein. –Was machst du denn, sagt deine Stimme. Wie meinst du das. Sie lauscht der Frage nach. – Regen Sie sich nicht auf. Wir kriegen das schon in den Griff.
    Ich reg mich doch gar nicht auf. Sie hätte gar nicht die Kraft, sich aufzuregen. Es ist sehr unangenehm, hat ihr mal jemand gesagt, aber man stirbt nicht daran. Das war beim erstenmal, es war die Betriebsärztin in der Poliklinik des
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