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Das Vermächtnis der Eszter

Das Vermächtnis der Eszter

Titel: Das Vermächtnis der Eszter
Autoren: Sándor Márai
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wird. Versprechen Sie es?«
    Aber er antwortete nicht. Er nahm den Vertrag zwischen zwei Finger wie etwas Schmutziges und Verdächtiges.
    »Ja, nun«, sagte er leise. »Das habe ich natürlich nicht gewußt.«
    Ich nahm seine Hand, ließ sie aber gleich wieder los.
    »Verzeihen Sie«, sagte ich, »aber es hat mich zwanzig Jahre lang nie jemand danach gefragt. Auch Sie nicht, und auch Tibor nicht … Und vielleicht wußte ich es selbst noch nicht so genau, so unerbittlich genau, wie ich es heute nachmittag erfahren habe. Lajos hat recht, Endre, Lajos, der sagt, daß es im Leben eine unsichtbare Ordnung gibt und daß man beenden muß, was man einmal angefangen hat … Je nach Möglichkeit … Und jetzt haben wir es beendet«, sagte ich und stand auf.
    »Ja«, sagte er gesenkten Kopfes, in der Hand das Schriftstück. »Es ist wohl unnötig zu erwähnen, für den Fall, daß Sie es bereuen sollten … jetzt oder später … Wir sind immer da, Tibor und ich.«
    »Das ist in der Tat unnötig zu erwähnen«, sagte ich und bemühte mich zu lächeln.

20

    Gegen Mitternacht hörte ich Nunus Schritte; sie stieg langsam die knarrenden, morschen Holzstufen herauf und blieb auf jeder dritten hustend stehen. Wie in der vorhergegangenen Nacht erschien sie auch jetzt auf der Schwelle, in der Hand die flackernde Kerze, in ihrem einzigen schwarzen Festtagskleid, das auszuziehen sie noch keine Zeit hatte.
    »Du schläfst nicht«, sagte sie und setzte sich neben mich aufs Bett; den Kerzenstumpf hatte sie auf den Tisch gestellt. »Weißt du, daß sie auch das Eingemachte mitgenommen haben?«
    »Nein«, sagte ich, setzte mich im Bett auf und begann zu lachen.
    »Den Pfirsich«, sagte sie sachlich. »Alle zwanzig Gläser. Éva hat sie haben wollen. Die Blumen haben sie auch mitgenommen, die restlichen Dahlien aus dem Garten.«
    »Wer hat die Blumen mitgenommen?« fragte ich.
    »Die Frau.«
    Sie hustete, verschränkte die Arme und saß aufgerichtet, ruhig und selbstbewußt wie immer, wie in allen Situationen des Lebens. Ich nahm ihre knochige, weder warme noch kalte Hand.
    »Sollen sie’s halt mitnehmen, Nunu«, sagte ich.
    »Natürlich. Sollen sie, meine Kleine. Wenn es nicht anders möglich ist.«
    »Ich habe nicht hinunterkommen können zum Abendessen«, sagte ich und drückte ihr um Verzeihung bittend die Hand. »Sei mir nicht böse. Haben sie nicht gestaunt?«
    »Nein. Sie haben eher nur geschwiegen. Ich glaube, gestaunt haben sie nicht.«
    Jetzt schauten wir in die flackernde Kerzenflamme. Mir war kalt.
    »Nunu, mein Liebes, laß bitte die Storen herunter. Und dort auf der Kommode sind drei Briefe. Gib sie mir, sei so lieb.«
    Sie bewegte sich langsam durch das Zimmer, und manchmal wuchs ihr Schatten an der Wand riesenhaft an. Sie machte das Fenster zu, brachte mir die Briefe, deckte mich zu und setzte sich wieder auf den Bettrand, wieder mit verschränkten Armen und ein bißchen feierlich, als wohne sie einem bizarren Fest des Lebens bei … einem ungewohnten Fest, weder Hochzeit noch Begräbnis. So saß sie und schwieg.
    »Du verstehst es, Nunu?«
    »Ja, meine Kleine, ich verstehe es«, sagte sie und umarmte mich.
    Wir saßen und warteten darauf, daß die Kerze abbrannte; oder daß der Wind nachließ, der seit Mitternacht um das Haus pfiff und am zerzausten Laub der Bäume riß; oder daß es Morgen würde. Ich weiß selbst nicht, worauf wir noch warteten. Ich schlotterte.
    »Du bist müde.« Sie stopfte die Decke um mich fest.
    »Ja«, sagte ich. »Ich bin sehr müde. Weißt du, das alles war zuviel. Ich möchte schlafen. Nunu, Liebes, lies mir doch diese drei Briefe vor.«
    Sie griff in ihre Schürzentasche, holte ihre Drahtbrille hervor und betrachtete aufmerksam die Briefe.
    »Die hat Lajos geschrieben«, sagte sie.
    »Erkennst du die Schrift?«
    »Ja. Hast du sie jetzt bekommen?«
    »Ja.«
    »Wann hat er sie geschrieben?«
    »Vor zwanzig Jahren.«
    »Kann die Post etwas dafür, daß du sie erst jetzt bekommen hast?« fragte sie neugierig und eifersüchtig.
    »Nein, die Post nicht.« Ich mußte lächeln.
    »Wer kann etwas dafür?«
    »Vilma.«
    »Hat sie sie gestohlen?«
    »Ja.«
    »Ja«, sagte sie seufzend. »Sie ruhe in Frieden. Ich habe sie nie gemocht.«
    Sie rückte die Brille auf ihrer Nase zurecht, neigte sich in Richtung der Kerzenflamme und begann, einen der Briefe mit singender Schülerinnenstimme vorzulesen.
    »Meine Einzige«, las sie, »das Leben spielt höchst seltsam mit uns. Ich habe keine andere Hoffnung mehr,
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