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Balthazar: Roman (German Edition)

Balthazar: Roman (German Edition)

Titel: Balthazar: Roman (German Edition)
Autoren: Claudia Gray
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1
    Ständig war sie gezwungen, Menschen beim Sterben zuzusehen.
    Skye Tierney umklammerte die Zügel ihres Pferdes mit ihren behandschuhten Händen und kniff fest die Augen zusammen, um so dieses Gefühl loszuwerden. Aber es nützte nichts. Ob sie nun die Bilder sehen konnte oder nicht – sie wusste, was ganz in ihrer Nähe geschah. Das Entsetzen war so greifbar und wahrhaftig wie der graue Winterhimmel über ihrem Kopf.
    Nicht hinzuschauen machte die Sache aber nur noch schlimmer. Skye holte tief und zitternd Atem und zwang sich, die Augen wieder zu öffnen, um zuzusehen, wie eine Frau um ihr Leben rannte.
    Sie hatte geglaubt, er würde ihr nicht bis hierher folgen. Er war seit seinem Sturz vor zwei Monaten nicht mehr derselbe; es war, als ob alles Gute aus ihm herausgeströmt wäre, als er mit dem Kopf aufgeschlagen war, und als ob etwas anderes – etwas Dunkleres – stattdessen eingedrungen wäre. Sie hatte geglaubt, er würde sie gar nicht mehr beachten, aber das stimmte nicht. Er hatte sie ständig beobachtet, und das tat er auch jetzt.
    Ja, er ist hier bei ihr, und seine Finger bohren sich tief in ihren Arm, als er davon spricht, dass sie aufgehalten werden müsse.
    Es ist anders als bei seinen früheren Anfällen. Er jagt ihr eine solche Angst ein, dass ihre Kehle trocken wird und sie sich auf den Boden fallen lassen und sich tot stellen will wie ein vor Schreck erstarrtes Tier, sodass er vielleicht in seinem benebelten Zustand von ihr ablässt. Aber sie kann sich nicht einmal so weit von ihm lösen, dass sie sich hinwerfen könnte; er ist einfach zu groß und zu stark. Mit zitternder Stimme sagt sie zu ihm, dass er nicht mehr klar denken könne und dass es ihm leidtun werde, wenn er wieder zu sich käme. So verzweifelt will sie sich von ihm losreißen, dass er seine Finger nur noch tiefer in ihr Fleisch gräbt, bis ihre Haut aufzureißen droht. Ihre Füße rutschen auf den Herbstblättern aus, als sie mit ihrer freien Hand nach ihm schlägt.
    Er lächelt, als hätte er gerade etwas Schönes gesehen, und er wirbelt sie im Kreis um sich herum wie ein Kind, das mit einer Freundin Karussell spielt. So hat er sich mit ihr herumgedreht, als sie beide noch Kinder gewesen waren, nur dass er sie dieses Mal über den Klippenabhang schleudert und dann loslässt.
    Sie schreit und schreit, ihre Arme und Beine rudern und strampeln in der vorbeirauschenden Luft, doch nichts kann ihr jetzt noch helfen. Der Sturz dauert lange, so lange, und sie fällt immer schneller …
    Skye taumelte rückwärts und prallte mit Eb zusammen. In ihren Adern rauschte das Adrenalin, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Das Bild verblasste, aber das Entsetzen ließ nicht nach.
    »Er geschieht noch immer«, flüsterte sie. Niemand konnte sie hören außer ihrem Pferd, und Eb wandte ihr seinen großen, schwarzen Kopf zu; der Ausdruck in seinen Augen war sanft. Ihre Eltern sagten immer, sie würde Eb Gefühle zuschreiben, die er weder haben noch verstehen könne. Aber die beiden hatten einfach keine Ahnung von Pferden. Skye lehnte ihren Kopf an Ebs dicken Hals und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Trotz ihres warmen Mantels und des dicken Pullis, den sie trug, fand die kalte Luft einen Weg bis auf ihre Haut, sodass sie zitterte. Der Wind riss an ihren kastanienbraunen Locken, die unter ihrem Reiterhelm hervorlugten, und das erinnerte sie daran, dass schon bald die Nacht hereinbrechen würde und die winterliche Schönheit des öffentlichen Reitpfades hinter ihrem Haus einer schneidenden, heimtückischen Kälte würde weichen müssen. Aber trotzdem schaffte sie es nicht, sich in Bewegung zu setzen.
    Die beiden, die sie eben gesehen hatte, hatten Worte in einer Sprache gewechselt, die Skye nicht beherrschte, ja die sie, wie sie glaubte, noch nie zuvor gehört hatte. Aus ihrer Kleidung und ihren Frisuren hatte sie geschlossen, dass es sich bei ihnen um Indianer gehandelt haben müsste. Lag das, was sie gesehen hatte, bereits fünf- oder sechshundert Jahre zurück? Trugen ihre Visionen sie so weit in die Vergangenheit? Oder gar noch weiter? Es fühlte sich an, als würden sie überhaupt keine Grenzen kennen.
    So unglaublich es auch schien: Die aufsteigenden Bilder von Todesfällen aus längst verflossenen Zeiten, die Skye nun schon seit fünf Wochen plagten – seit dem Tag des Falls der Evernight-Akademie –, verschwanden einfach nicht mehr. Skye hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass es das Sterben, das sie sah, tatsächlich und nicht
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