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Das Vermächtnis der Eszter

Das Vermächtnis der Eszter

Titel: Das Vermächtnis der Eszter
Autoren: Sándor Márai
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sehr schwer sein. Manchmal glaube ich fast schon, daß du tatsächlich ein Genie bist … Ein Genie der Lüge. Du schaust mir in die Augen, oder du berührst mich, und deine Tränen fließen, und ich spüre das Zittern deiner Hand, und gleichzeitig weiß ich, daß du lügst, daß du schon immer gelogen hast, vom ersten Augenblick an. Dein Leben war eine Lüge. Ich glaube nicht einmal an deinen Tod. Auch er wird verlogen sein. Ja, du bist ein Genie.«
    »Bitte«, sagte er ruhig. »Für alle Fälle habe ich die Briefe mitgebracht. Schließlich habe ich sie ja dir geschrieben. Da.«
    Er zog mit einer schlichten, dienstfertigen Bewegung die drei Briefe aus seiner Jackentasche und überreichte sie mir.

18

    Der Inhalt der Briefe interessierte mich in dem Augenblick nicht besonders; ich kannte Lajos’ Schreibkünste. Die Umschläge hingegen schaute ich mir genau an. Auf allen dreien standen mein Name und meine Adresse, in Lajos’ Handschrift, und das Datum des Poststempels bezeugte, daß die Briefe tatsächlich zweiundzwanzig Jahre zuvor, in der Woche vor Vilmas und Lajos’ Hochzeit, an mich aufgegeben worden waren. Fest steht, daß ich diese drei Briefe nie bekommen habe. Jemand hat sie unterschlagen. Was nicht schwer war: Die Post wurde immer von einer heftig neugierigen Vilma, die auch den Schlüssel zum Briefkasten hatte, in Empfang genommen. Nachdem ich die drei Umschläge betrachtet hatte, warf ich sie auf die Kommode, neben Vilmas Porträt.
    »Willst du sie nicht lesen?« fragte Lajos.
    »Nein«, sagte ich. »Wozu? Ich glaube, daß darin das steht, was du gesagt hast. Es spielt keine große Rolle. Du vermagst«, sagte ich und freute mich fast über diese Erkenntnis, »sogar mit Tatsachen zu lügen.«
    »Du hast die Briefe nie bekommen?« fragte Lajos ruhig. Meine Angriffe schienen ihn nicht sehr zu erschüttern.
    »Nein.«
    »Wer hat meine Briefe gestohlen?«
    »Wer wohl? Vilma. Wer denn sonst? Wer hätte ein Interesse gehabt?«
    »Ja, richtig. Es kann niemand anders gewesen sein.«
    Er trat zur Kommode, besah sich aufmerksam die Marken und Daten der Briefe, dann beugte er sich über Vilmas Bild, zwischen den Fingern eine Zigarre, von der er gemütlich sich kräuselnden Rauch in die Höhe steigen ließ, und er lächelte interessiert. Er betrachtete das Bild versunken, als wäre ich gar nicht da, schüttelte den Kopf und pfiff leise und anerkennend, wie ein Einbrecher, dem die Arbeit eines anderen Einbrechers imponiert. So stand er da, die Beine gespreizt, die eine Hand in der Jackentasche, in der anderen die qualmende Zigarre, mit sachverständiger Befriedigung.
    »Saubere Arbeit«, sagte er dann, wandte sich um und blieb auf einen Schritt Entfernung vor mir stehen. »Aber was willst du dann von mir? Was habe ich verbrochen? Was schulde ich? Was habe ich unterlassen? Worin habe ich gelogen? In den Einzelheiten. Doch es hat einen Augenblick gegeben«, er zeigte auf die Briefe, »da habe ich nicht gelogen, da habe ich die Hand ausgestreckt, weil es mir schwindlig war wie einem Seiltänzer während der Vorführung. Du hast mir nicht geholfen. Niemand hat mich festgehalten. Da habe ich eben weitergetanzt, weil man mit fünfunddreißig keine Lust hat abzustürzen … Du weißt, daß ich nicht besonders sentimental bin, ja, nicht einmal sehr leidenschaftlich. Mich interessierte das Leben … Mich interessierten die Chancen … das Spiel, wie du vorhin gesagt hast … Ich bin nicht der Mann, und war es auch nie, der alles auf eine Frau, auf ein Gefühl setzt … Auch zu dir hat mich nicht eine unwiderstehliche Leidenschaft getrieben, ich darf es ja jetzt sagen. Ich will aber nicht, daß du weinst, ich kann es nicht brauchen, daß du jetzt weich wirst. Das wäre ja auch lächerlich. Ich bin nicht gekommen, dich um etwas zu bitten. Ich bin gekommen, um zu fordern. Verstehst du jetzt?« fragte er ernst und freundlich.
    »Fordern?« sagte ich tonlos. »Interessant. Also, fordere.«
    »Ja«, sagte er. »Ich will es versuchen. Selbstverständlich habe ich nach Recht und Gesetz nichts von dir zu fordern. Aber es gibt auch noch andere Gesetze. Das weißt du vielleicht nicht, aber jetzt ist der Augenblick gekommen, da du erfahren mußt, daß es neben dem Gesetz der Tugend noch ein anderes, ebenso mächtiges, ebenso gültiges gibt … Wie soll ich sagen … Ahnst du es schon? Im allgemeinen ertragen die Menschen dieses Bewußtsein nicht. Du mußt wissen, daß die Menschen nicht nur durch das Wort, das Gelöbnis oder das
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