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Die Tochter Der Goldzeit

Die Tochter Der Goldzeit

Titel: Die Tochter Der Goldzeit
Autoren: Jo Zybell
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Prolog
    »Halte durch«, hatte sie ihm gesagt, »du schaffst es! Gib nicht auf!« Doch jetzt hielt sie ihn nur noch in den Armen und wiegte ihn, wie man ein Kind im Arm hält und wiegt, wenn es weint und Trost braucht.
    Aber er weinte nicht, brauchte keinen Trost mehr - er atmete nur keuchend, und manchmal, wenn er wieder Luft bekam, flüsterte er ihr ins Ohr, was er noch zu sagen hatte.
    »Geh jetzt«, sagte er zum Schluss.
    Katanja musste sich von ihm lösen, wenn sie leben wollte, musste ihn allein lassen, sie wusste es. Also umarmte sie ihn, legte ihn im gefrorenen Schnee ab und stand auf. Sie spähte den Schneehang hinunter zum Heerlager. Zwischen den brennenden Zelten und Wagen galoppierten Zugtiere und blökten in Todesangst. Niemand fing sie ein, niemand beruhigte sie. Kaum ein Mensch hielt sich noch dort unten auf. Am Rand des Lagers aber hatten sich Bewaffnete zusammengerottet, beinahe zwei Dutzend. Einige stapften bereits zu ihr den Hang herauf. Doch eine einzige Geste von ihr, und schon zauderten sie, blieben stehen und duckten sich wie Raubtiere, die sich ertappt fühlen und lauschen und spähen. Katanja machte sich nichts vor: Diese Männer wollten sich rächen und würden sie jagen, bis sie wieder in Fesseln lag.
    Ein letztes Mal blickte sie auf den Sterbenden hinunter. Bei jedem Atemzug bäumte sein Brustkorb sich auf. Sein Hemd war ein feuchter roter Lappen, der Schnee um seinen Oberkörper herum mit Blut getränkt. Längst stand er auf der Schwelle zwischen dem Sein und dem Nichts. Katanja murmelte einen Dank, drehte sich um und lief auf der anderen Seite des Hügels den Schneehang hinunter.
    Ihre geprügelten Glieder schmerzten bei jedem Schritt, ihre Wunden brannten. Die Nacht dämmerte schon herauf. Eine Rauchsäule stand am anderen Ende der verschneiten Ebene, vielleicht fünftausend Schritte entfernt und himmelhoch. Feuerschein flackerte dort auf einem Schneewall und erleuchtete die Rauchwolken. Katanja sah es und erschrak - was geschah dort? Fraßen die Flammen denn die Gefährten? Und das Erbe der Goldzeit - war es doch in die Hände des Eisernen gefallen? Hatten die Tyrannen der Neuen Goldzeit das Ziel vor den Gefährten erreicht?
    Katanja vergaß ihre Schmerzen, lief schneller, lief zum nächsten Hügelkamm und auf der anderen Seite hinunter in die nächste Schneise. Sie flüsterte den Namen des Mannes, an dem ihr Herz hing. Der Weg zu ihm erschien ihr unendlich, hatte sie doch kaum noch Kraft. Wie sollte sie auch nur die andere Seite des Flusstals erreichen? Sie rief seinen Namen, sie keuchte ihn. Die Angst um ihn trieb sie voran.
    Noch einmal sah sie zurück. Verfolger duckten sich in Eisspalten und hinter Schneeverwehungen. Deutlich sah sie noch immer die Umrisse des Sterbenden auf dem Hügelkamm, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Er war nicht mehr allein - jemand beugte sich über ihn. Tränen rannen ihr über die eiskalten Wangen. Sie drehte sich um, rannte weiter.
    Das greise Gesicht ihrer Meisterin stand ihr auf einmal vor dem inneren Auge, als sie die letzte Hügelkette vor dem Flusstal hinaufwankte. Sie glaubte sogar, ihre Stimme zu hören. Nur wenn wir bereit sind, uns zu vergessen und uns dem wilden Dahinströmen des Lebens hinzugeben, nur dann werden wir wirklich leben. Das waren Grittanas Worte gewesen. Sind wir nicht dazu bereit, dann sind wir schon tot. Ja, das hatte sie gesagt an jenem Tag, als Katanja sich entschied, den Auftrag der Sozietät anzunehmen. War das eine falsche Entscheidung gewesen? War sie nicht längst gescheitert? Die düsteren Gedanken lähmten ihren Schritt. Sie verscheuchte sie, versuchte den Schrecken zu vergessen, der hinter ihr lag, versuchte die Angst abzuschütteln, die sie befiel, wenn sie an das dachte, was vor ihr lag. Nicht allein wild erschien ihr der Strom des Lebens in diesen Stunden - unberechenbar und grausam kam er ihr vor. Es war schwer, sich ihm zu überlassen. Doch blieb ihr eine Wahl?
    Katanja rannte den Hang hinunter, wankte atemlos in den winterlichen Flusswald hinein. Eisbedeckte Zweige peitschten ihr ins Gesicht, schützend hob sie die Arme vor den Kopf. In der Krone eines entwurzelten Baumes blieb sie hängen, befreite sich, stolperte weiter, lauschte erschrocken: Irgendwo hinter ihr knirschte Schnee unter Stiefelsohlen.
    Weiter! Sie rannte tiefer in den Wald hinein. Eisiger Wind blies ihr ins zerkratzte Gesicht. Immer weiter! Die Hände vor sich ausgestreckt, brach sie durch Gestrüpp und Gebüsch, bis ein Wurzelstrunk sie zu
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