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Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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Kapitel 1

    Die Natter schlängelte sich zum Flussufer hinunter, legte anmutig den Kopf aufs Wasser, und Torak blieb in einiger Entfernung stehen, um sie nicht beim Trinken zu stören.
    Sein Arm schmerzte vom Gewicht des Hirschgeweihs. Er legte es ab und hockte sich ins Farn, um das Tier zu beobachten. Schlangen sind kluge Geschöpfe und kennen viele Geheimnisse. Vielleicht konnte ihm die Natter ja helfen, sein eigenes Geheimnis zu ergründen.
    Die Natter trank ohne Eile, mit gemächlichen Schlucken. Als sie fertig war, hob sie den Kopf, beäugte Torak und witterte züngelnd seinen Geruch, bevor sie sich wieder zurückzog und ins Unterholz davonglitt.
    Die Schlange hatte ihm kein Zeichen gegeben.
    Aber du brauchst kein Zeichen, sagte er sich müde. Du weißt auch so, was du zu tun hast. Erzähle es ihnen, sobald du wieder im Lager bist. Sag einfach: »Renn, Fin-Kedinn, hört mir zu. Vor zwei Monden ist etwas mit mir geschehen. Die Seelenesser haben mich festgehalten und mir ihr Mal in die Brust geritzt. Und inzwischen …«
    Nein. Ausgeschlossen. So ging das nicht. Er sah Renns fassungslose Miene vor sich: »Ich bin deine beste Freundin  – und du hast mich zwei volle Monde lang belogen!«
    Torak ließ den Kopf in die Hände sinken.
    Kurz darauf vernahm er ein Rascheln. Er sah auf und erblickte am gegenüberliegenden Flussufer einen Hirsch. Das Tier stand auf drei Beinen und schabte mit dem Huf des Hinterlaufs heftig die knospenden Geweihsprossen. Da es spürte, dass Torak nicht auf der Jagd war, fuhr es fort, sich zu kratzen. Das Gehörn blutete bereits: Offenbar war das Jucken derart unerträglich, dass die einzige Erleichterung für das Tier darin bestand, sich selbst Schmerzen zuzufügen.
    Genau dasselbe sollte ich auch tun, dachte Torak. Es herausschneiden. Mir Schmerzen zufügen. Dann muss niemand je davon erfahren.
    Doch selbst wenn er sich dazu hätte überwinden können, war es mit dem Herausschneiden allein nicht getan. Um das Mal auszulöschen, musste er auch die richtige Zeremonie vollziehen. So viel hatte er von Renn erfahren, als er sich einmal beiläufig nach den tätowierten Blitzzeichen auf ihrem Handgelenk erkundigt hatte.
    »Ohne das Ritual«, hatte sie erwidert, »erscheinen die Male immer wieder.«
    »Sie erscheinen immer wieder aufs Neue?« Torak war vor Entsetzen wie gelähmt gewesen.
    »Natürlich. Man kann sie zwar nicht sehen, denn sie sitzen tief im Mark, aber sie sind trotzdem immer noch da.«
    Herausschneiden war also keine Lösung. Es sei denn, er brachte Renn dazu, ihm alles über die Zeremonie zu erzählen, ohne dabei seine eigenen Absichten preiszugeben.
    Der Hirsch schüttelte gereizt den mächtigen Schädel und trottete in den Wald zurück. Torak hob das schwere Geweih mit einiger Anstrengung auf und machte sich auf den Weg ins Lager. Bei diesem Gehörn handelte es sich um einen wahren Glücksfund: die mächtigen Sprossen, aus denen sich ausgezeichnete Angelhaken schnitzen oder Hämmer zum Zuhauen der Feuersteine herstellen ließen, reichten für den ganzen Clan. Fin-Keddin würde gewiss zufrieden sein, und Torak gab sich redlich Mühe, an nichts anderes zu denken.
    Vergebens. Zum ersten Mal begriff er, wie sehr ein Geheimnis seinen Träger von den anderen ausschließt. Er musste unablässig daran denken, sogar wenn er mit Renn und Wolf auf der Jagd war.
    Der Mond der Wandernden Lachse hatte gerade erst begonnen und der beißende Ostwind trug kräftigen Fischgeruch mit sich. Während Torak unter den Kiefern entlanglief, knirschten die Borkensplitter, die geschäftige Spechte aus den Bäumen gehämmert hatten, unter seinen Füßen. Links rauschte der vom langen Eis befreite Grüne Fluss munter dahin, zu seiner Rechten stieg eine steile Felswand zum Zackenkamm an. Im Stein waren bisweilen Kerben zu sehen, dort, wo die Clans in den rötlichen Schiefer geschlagen hatten. Man sagte diesem Stein nach, dass er einem Glück bei der Jagd brachte. Dumpfes Hämmern schallte durch die Stille. Jemand brach gerade Stein.
    Das wäre meine Aufgabe, schalt sich Torak. Ich sollte eine neue Axt anfertigen und etwas Vernünftiges tun. »So kann es nicht weitergehen«, sagte er laut.
    »Da hast du allerdings recht«, ertönte eine Stimme von oben. »So geht’s wirklich nicht weiter.«
    Etwa zehn Schritte über ihm kauerten vier Jungen und zwei Mädchen auf dem Felsen und funkelten ihn mit drohenden Blicken an. Die zum Eberclan Gehörigen hatten das braune Haar auf Schulterlänge gestutzt und über
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