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Im Land der weissen Rose

Im Land der weissen Rose

Titel: Im Land der weissen Rose
Autoren: Sarah Lark
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    Die anglikanische Kirche in Christchurch, Neuseeland, sucht
ehrbare, in Haushalt und Kindererziehung bewanderte junge Frauen, die
interessiert sind, eine christliche Ehe mit wohl beleumundeten, gut
situierten Mitgliedern unserer Gemeinde einzugehen.
    Helens Blick blieb kurz an der unscheinbaren Anzeige auf der
letzten Seite des Kirchenblättchens haften. Die Lehrerin hatte
das Heftchen kurz überflogen, während ihre Schüler
sich still mit einer Grammatikübung beschäftigten. Lieber
hätte Helen ein Buch gelesen, doch Williams ständige Fragen
rissen sie ständig aus der Konzentration. Auch jetzt wieder hob
sich der braune Wuschelkopf des Elfjährigen von seiner Arbeit.
    Â»Im dritten Absatz, Miss Davenport, heißt es da das
oder dass?«
    Helen schob ihre Lektüre seufzend beiseite und erklärte
dem Jungen zum x-ten Mal in dieser Woche den Unterschied zwischen
Relativ- und Konsekutivsatz. William, der jüngere Sohn ihres
Arbeitgebers Robert Greenwood, war ein niedliches Kind, aber nicht
gerade mit Geistesgaben gesegnet. Er brauchte bei jeder Aufgabe
Hilfe,vergaß Helens Erklärungen schneller, als diese sie
geben konnte, und verstand sich eigentlich nur darauf, rührend
hilflos dreinzuschauen und Erwachsene mit süßer
Knabensopranstimme zu umgarnen. Lucinda, Williams Mutter, fiel immer
wieder darauf herein. Wenn der Junge sich an sie schmiegte und
irgendeine kleine gemeinsame Unternehmung vorschlug, strich Lucinda
regelmäßig alle Nachhilfestunden, die Helen ansetzte.
Deshalb konnte William bis jetzt nicht flüssig lesen, und schon
einfachste Rechtschreibübungen überforderten ihn
hoffnungslos. Daran, dass der Junge ein College wie Eaton oder Oxford
besuchte, wie sein Vater es sich erträumte, war nicht zu denken.
    Der sechzehnjährige George, Williams älterer Bruder,
machte sich gar nicht erst die Mühe, Verständnis zu
heucheln. Er verdrehte vielsagend die Augen und wies auf eine Stelle
im Lehrbuch, in der genau der Satz als Beispiel stand, an dem William
jetzt schon seit einer halben Stunde herumtüftelte. George, ein
schlaksiger, hoch aufgeschossener Junge, war mit seiner
Ãœbersetzungsaufgabe aus dem Lateinischen bereits fertig. Er
arbeitete stets schnell, wenn auch nicht immer fehlerfrei; die
klassischen Fächer langweilten ihn. George konnte es gar nicht
erwarten, eines Tages in die Import-Export-Firma seines Vaters
einzusteigen. Er träumte von Reisen in ferne Länder und
Expeditionen zu den neuen Märkten in den Kolonien, die sich
unter der Herrschaft der Königin Viktoria beinahe stündlich
erschlossen. George war zweifellos zum Kaufmann geboren. Er bewies
schon jetzt Verhandlungsgeschick und wusste seinen beträchtlichen
Charme gezielt einzusetzen. Mitunter gelang es ihm, damit sogar Helen
einzuwickeln und die Schulstunden zu verkürzen. Einen solchen
Versuch machte er auch heute, nachdem William endlich verstanden
hatte, worum es ging – oder wenigstens, wo er die Lösung
abschreiben konnte. Helen griff daraufhin nach Georges Heft, um seine
Arbeit zu kontrollieren, doch der Junge schob es provozierend
beiseite.
    Â»Oooch, Miss Davenport, wollen Sie das jetzt wirklich noch
mal durchkauen? Der Tag ist doch viel zu schön zum Lernen!
Spielen wir lieber eine Runde Krocket... Sie sollten an Ihrer Technik
arbeiten. Sonst stehen Sie beim Gartenfest wieder nur herum, und
keiner der jungen Herren bemerkt Sie. Dann machen Sie niemals Ihr
Glück durch eine Heirat mit einem Grafen und müssen bis ans
Ende Ihrer Tage hoffnungslose Fälle wie Willy unterrichten!«
    Helen verdrehte die Augen, warf einen Blick aus dem Fenster und
runzelte beim Anblick der dunklen Wolken die Stirn.
    Â»Netter Einfall, George, aber es ziehen Regenwolken auf. Bis
wir hier aufgeräumt haben und im Garten sind, werden sie sich
genau über unseren Köpfen entleeren, und das dürfte
mich kaum anziehender für adelige Herren machen. Wie kommst du
eigentlich auf den Gedanken, ich hätte diesbezügliche
Absichten?«
    Helen versuchte, eine betont desinteressierte Miene aufzusetzen.
Das konnte sie sehr gut: Wenn man als Gouvernante in Londoner
Familien der Oberschicht arbeitete, lernte man als Erstes, das eigene
Mienenspiel zu beherrschen. Helens Rolle bei den Greenwoods war weder
die eines Familienmitglieds noch einer gewöhnlichen
Angestellten. Sie nahm an den gemeinsamen Mahlzeiten und oft auch an
der Freizeitgestaltung
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