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Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)

Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)

Titel: Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
Autoren: Julianna Baggott
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PROLOG
Wilda
    Sie liegt auf einer dünnen Schneedecke. Als sie die Grenze zwischen der grauen Erde und dem grauen Himmel sieht, weiß sie, dass sie zurückgekehrt ist. Ein zerfetzter Horizont, wie von Krallen zerschlissen – doch die drei Krallenabdrücke sind nur verkrüppelte Bäume. Drei Bäume in einer Reihe, als würden sie den Boden an den Himmel tackern.
    Plötzlich schnappt sie nach Luft, ein verzögertes, heftiges Einatmen. Sie saugt den Atem in die Kehle, als hätte sie Angst, jemand könnte ihn stehlen.
    Sie richtet sich auf. Sie ist immer noch klein, immer noch nichts weiter als ein zehnjähriges Mädchen. Sie fühlt sich, als hätte sie viel Zeit verloren, aber das stimmt nicht. Nicht im eigentlichen Sinne. Sie hat keine Jahre verloren, vielleicht nur ein paar Tage. Oder Wochen.
    Sie trägt einen dicken Mantel, den sie fest um ihre Rippen wickelt. Der Mantel ist der Beweis. Sie berührt die Silberknöpfe, den Schal, der doppelt um ihren Hals geschlungen ist und im Kragen verschwindet. Wer hat sie angezogen? Wer hat den Schal zweimal um ihren Hals geschlungen? Sie blickt auf ihre Stiefel – nagelneue, dunkelblaue Stiefel mit stabilen Schnürsenkeln – und auf ihre Hände. Sie stecken in perfekt sitzenden Handschuhen, die jeden Finger umschließen wie ein straffer Kokon.
    Auf ihrer Schulter liegt eine dunkelrote Locke. Ihr Haar glänzt, das Ende einer jeden Strähne wirkt gesund und formvollendet, wie frisch geschnitten.
    Sie schiebt den Ärmel hoch, um ihren Arm freizulegen. Er sieht noch genauso aus wie unter dem hellen Licht: Der Knochen ist nicht mehr verkrümmt. Keine schmalen Plastikfurchen, die Blasen unter der Haut werfen. Keine Splitter, die ihre Haut sprenkeln, nicht mal ein Leberfleck oder eine Sommersprosse. Ihre Haut ist weiß – so weiß, wie Schnee sein sollte, vielleicht sogar weißer als Schnee. Sie kann nicht behaupten, jemals richtig weißen Schnee gesehen zu haben, jedenfalls nicht mit eigenen Augen. Unter dem Weiß ihrer Haut schimmern dünne, blaue Adern. Sie lässt die weiche Innenseite ihres Handgelenks über ihre Wange, ihre Lippen gleiten. Zarte Haut auf zarter Haut.
    Dann blickt sie sich um. Sie weiß, dass sie ganz in der Nähe sind. Die Luft ist erfüllt vom elektrischen Knistern ihrer Körper. Sie erinnert sich an damals, als sie sie aus den Reihen der anderen Streuner entführten – Kinder ohne Mutter, ohne Vater, die in einer selbst gezimmerten Hütte neben dem Markt schliefen. Sie fragt sich noch immer, warum sie auserwählt, gepackt, hochgehoben wurde. Eines der Dinger barg sie in den Armen und preschte über die Trümmer, die anderen rasten nebenher. Das mechanische Tuckern seines Atems, das Pumpen seiner Beine. Im Wind tränten ihre Augen so sehr, dass sie das kantige Gesicht nur unscharf sah. Damals hatte sie keine Angst, aber jetzt fürchtet sie sich. Noch sind sie hier, noch spürt sie ihre kräftigen Körper, die summen wie riesenhafte Bienen – doch sie lassen sie zurück. Sie fühlt sich wie eines der Kinder in den Märchen, die sie von ihrer Mutter erzählt bekommen hat. Ja, sie hatte mal eine Mutter. In einem Märchen sollte ein Jäger das Herz eines Mädchens bei einer bösen Königin abliefern, aber er brachte es nicht über sich. In einem anderen schlitzte ein Jäger einen Wolf auf, um die Menschen im Bauch des Wolfs zu retten. Die Jäger waren stark und gut. Doch manchmal setzten sie junge Mädchen im Wald aus, und dann mussten sich die Mädchen auf eigene Faust durchschlagen.    
    Es schneit, aber nur ganz leicht. Als sie vorsichtig aufsteht, kippt der Boden zur Seite, als wäre er auf einmal zu schwer für diese Welt. Sie fällt auf die Knie. Da hört sie Stimmen, die aus dem Wald dringen, und die Schritte zweier Menschen. Sie nähern sich. Selbst aus der Ferne erkennt sie die roten Narben auf ihren Gesichtern. Eine der beiden Gestalten hinkt, beide schleppen schwere Säcke.
    Sie zieht sich den Schal über Mund und Nase. Sie weiß, dass sie sich finden lassen soll, dass sie ein Findling sein soll. Findling – sie erinnert sich, wie sie das Wort im Raum mit dem hellen Licht gehört hat: »Sie soll ein Findling sein«, sagte die brüchige Männerstimme, die aus einem der Lautsprecher drang. Die Stimme des Anführers, den sie nie zu Gesicht bekam. Willux, Willux , flüsterten die anderen, Menschen mit glatter Haut, die mit nichts verschmolzen waren, die mühelos um ihr Bett schlichen. Um sie herum erhoben sich Metallstangen, an denen Beutel
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