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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht
Autoren: Ralf Rothmann
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Tau, und noch einmal durchquerte sie einen Trichter voller Gestrüpp. Die Erde schmatzte unter ihren alten Schuhen, die nicht mehr dicht waren; sie stolperte über Schollen vermoosten Betons, zerfetzte sich die Jeans an Armierungseisen, und rutschte immer wieder ab an einem ölig glänzenden Schieferhang. Sie musste schneller gehen, als die dünnen Gesteinsplättchen bröckelten, und keuchte vor Anstrengung. Sterndolden, nach denen sie griff, rissen mitsamt den Wurzeln aus, der Schweiß brannte in den Augen, und die nasse Wolle des Rollkragens juckte, aber plötzlich stand sie auf einer Lichtung voller Rispengras, hüfthoch, und der Himmel darüber war schon fast blau.
    Sie wischte sich die Hände am Parka ab. Nur Pilzsammler verirrten sich hierher, oder Hundehalter, die ihren stöbernden Tieren folgten, und so hatte auch sie den Weiher hinter den Buchen entdeckt, ein ovales Gewässer in einer Senke, das zur Hälfte von Schilf umwachsen war und in dessen Uferschlamm sich viele große und kleine Wildspuren eingedrückt hatten. Die gewaltigen Bäume, an deren silbergrauen Stämmen in Mannshöhe und höher verwachsene Schriftzeichen zu erkennen waren, kyrillische, strahlten einen Ernst aus, der ihr gütig vorkommen wollte, weise gar, auch wenn die kleinen Lärchen zwischen ihnen eher wie geduldet aussahen und halb verhungert von dem wenigen Licht, das hier unten für sie abfiel; ihre Nadelbüschel wurden schon gelb.
    Unter einer gab es eine Mulde, in der sich Webster einmal vor ihr verkrochen hatte, einen blutigen Siebenschläfer im Maul, und sie breitete den Parka darin aus, setzte sich darauf und blickte zum Ufer des Weihers hinunter, wo das Gras noch flachgedrückt war von den nachts hier lagernden Tieren. Tiefer im Wald konnte sie einen Leckstein auf einem Holzpfahl erkennen, einen runden Klumpen, hellblau, dessen Salzkristalle wie Reif in der Dämmerung glänzten. Ein Vogel schrie hinter dem Schilf und schien mit den Flügeln das Wasser zu schlagen, dann war es wieder still, und sie schraubte die kleine Flasche auf, trank einen Schluck, schmeckte ihm nach und ging noch einmal ihre Angelegenheiten durch, Punkt für Punkt.
    Den Brief an Wolf kannte sie auswendig, ebenso den an ihre Eltern und den Bruder; den an die andere hattesie wieder zerrissen und ihr eine SMS mit seinem Absender geschickt, ein schlichtes »Ruf mich bitte an«. Unter dem Handy in ihrer Schreibtischschublade lagen die Dokumente und Vollmachten, handgeschrieben, sowie die Röntgenbilder, Schichtaufnahmen und alle Befunde, der erste aus der Charité ebenso wie die folgenden aus der Universitätsklinik Tübingen und der endgültige aus dem Kantonspital in Zürich. Die wesentlichen Formulierungen hatte sie mit einem Marker gekennzeichnet, und als hätte schon der Gedanke daran eine materielle Substanz, spürte sie den Druck auf den Sehnerv, atmete durch und zog Wolfs Uhr aus der Tasche, die alte Automatik, in der das Schwungrad leise surrte, als sie sie ums Handgelenk band. Halb acht.
    Sie öffnete die Schnürsenkel ihrer Schuhe, befühlte das Leder. Eine Weile blieb sie reglos sitzen und beobachtete, wie sich zwei Eichhörnchen den Stamm einer Kiefer hochjagten in spiraligen Bahnen und, auf den äußersten Wipfelzweigen angelangt, von einer Krone zur anderen sprangen mit gespreizten Krallen. Zapfen fielen in den Uferschlamm, ein sehr blasser, fast durchscheinender Kohlweißling flatterte aus dem Gras, und plötzlich klang die Stille anders. Sie schob ein paar Zweige zur Seite, verengte die Augen, konnte aber nichts sehen, nicht deutlich; wie aus Angst und Trauer geborene Schatten bewegten sich zwischen den Sträuchern und Bäumen, Schemen, ohne dass man auch nur ein Knistern hörte. Vermutlich waren es Hirsche oder Rehe, die trinken wollten, sich aber nicht aus der Deckung wagten. Das Uhrglas beschlug.
    Schräg fielen die ersten Strahlen der Sonne zwischen die hohen Stämme – diesige, sanft sich bewegende Lichtbahnen, in denen die Spinnfäden an den Farnen deutlicher wurden. Manche der schon braunen Stauden waren gänzlich überwebt; die feinen Netze, aus denen Insektenflügel ragten, blähten sich und sanken wieder zusammen in einem Hauch von Wind. Irgendwo gurrten Waldtauben, und der makellose Morgenhimmel spiegelte sich im Wasser und ließ ahnen, dass es auch an diesem Tag nicht kühler werden würde, im Gegenteil. Trotz der Frühe roch man bereits das Harz der Nadelbäume, ein warmer Duft, und an manchen Stämmen funkelten die gerade
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