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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht
Autoren: Ralf Rothmann
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Grund geht es nicht weiter, und die Stille nimmt immer noch zu. Pappelsamen wirbelt herum wie Schnee, ein wildes Stöbern.

    Sie hatten sich Ende des Jahres entschieden, gegen Weihnachten. Sie waren ihr altes Viertel leid. Eine zunächst nur lästige Bronchitis, die Folge einer Vortragsreise im Oktober, des Wartens auf zugigen Bahnsteigen, war in der Berliner Luft zu einer Lungenentzündung geworden, mit hohem Fieber, und die Heilung zog sich hin. Erschöpft lag er auf dem Bett, nippte am Tee und versuchte zu lesen, während Alina ein paar Kiefernzweige mit Schleifen, Kerzen und Glaskugeln schmückte. Der Weihnachtszauber muss sein.
    Trotz der geschlossenen Fenster riecht es nach Kohlenrauch und Autoabgasen; die Rahmen sind verrottet, die Scheiben zittern, wenn Lieferwagen durch die Straße fahren. Die Fixer in den Räumen über ihnen streiten sich, verfluchen einander mit krächzenden Stimmen. Ein Spanier oder Südamerikaner ist dabei, »Te mato!« ruft er, und noch einmal schriller: »Te mato!« Irgend etwas poltert auf die Dielen, und unter ihnen kläfft Lola, die Hündin des Hauswarts, der sie selten mitnimmt in die Kneipe, ein feuchtes Gewölbe im Souterrain. Nachts hört man das Klicken der Billardkugeln im Kamin, und die Bässe der Musikbox, man fühlt sie im Bett.
    Es ist zum Verrücktwerden, dieses Haus, wenn auch mit schönem Blick; man sieht die Schwäne auf dem Landwehrkanal, und der Himmel zieht sich hin bis zuden Baukränen am Potsdamer Platz. Es ist schmutzig und stinkt aus allen Rohren, und besonders wenn Wolf heimkehrt von Reisen durch das saubere Westdeutschland, wo er in der Villa seines Verlegers gewohnt hat oder im Frankfurter Hof, wenn er die schwere Türe aufdrückt und zwischen verbeulten Briefkästen und vertrockneten Topfpalmen hinaufsteigt in den vierten Stock, kommt es ihm wie eine Kränkung vor. Kronkorken knirschen unter seinen Schuhen, die Scherben zerschlagener Lampen.
    Außerdem plagt Alina ein seltsames Niesen, vermutlich eine Allergie gegen den Mülldunst aus dem Hof, und natürlich wissen sie, dass es so nicht weitergehen kann, seit Jahren ist es klar. Nach dem Mauerfall hat sich die Statik der Stadtteile verschoben, kaum merklich erst, wie sich ein Gebiss nach neuen Kronen oder Brücken ändert, und was man früher für ein Lächeln halten konnte, ist jetzt ein unverhohlenes Zähneblecken. Die buntscheckige Boheme, die das Kreuzberg längs der Kanalufer ausmachte, floh vor den neuen Mietpreisen nach Friedrichshain, Neuköllner Gangs durchstreifen die Hasenheide, und der U-Bahnhof Südstern ist zu einem Treffpunkt für Dealer und Süchtige geworden. In Rotten stehen sie davor mit ihren Kampfhunden, deren Maulkörbe locker am Halsband hängen, und wenn seine Freundin von einem späten Kurs oder einer privaten Unterrichtsstunde nach Hause kommt, muss Wolf sie abholen am Gleis.
    Angst hat sie, geht kaum mehr allein aus in der Nacht, und auch ihm ist oft mulmig; doch mehr noch fürchtet er sich vor einer anderen Gegend, einem neuen,vielleicht weniger freien Leben. Denn das Haus, so schrecklich es ist und so sehr ihn die betrunkenen und abgerissenen Mieter deprimieren, hat einen schönen Vorteil: Sie wohnen gemeinsam darin und doch getrennt; sie haben zwei Appartements im selben Stock. Vor Jahren hatte sich das ergeben, und ohne viel Mühe, obwohl es eine Zeit der Raumnot und des Preiswuchers war. Alina lebte bereits dort, und sie umgingen die Warteliste für die plötzlich freie Nachbarwohnung, indem er einen Brief an die Verwalterin schrieb, einen geschliffenen Appell an ihren Sinn für Romantik, und ein signiertes Buch dazulegte: Das erste Mal, dass er eine Wohnung bekam, weil er Schriftsteller ist; früher hatte man ihm aus demselben Grund so manche verweigert.
    Tür an Tür in teilnahmsvoller Distanz, das ist ihre Vorstellung von Anfang an; ein gemeinsames Leben, ohne dass Zauber und Anziehung sich durch zuviel Nähe und Gewöhnung aufbrauchen – hier scheint es möglich zu sein. Sie haben zwei Küchen, zwei Bäder, zwei breite Betten und eine Hoffnung, und das seit nunmehr siebzehn Jahren. Oft sehen sie sich Tage nicht, manchmal stellt er das Essen, das er für sie gekocht hat, in einem Topf vor ihre Tür. Sie schieben einander Zettel durch den Briefschlitz, Verse, Blödsinn, Marzipan, und wünschen sich per Klopfzeichen gute Nacht, und wenn sie telefonieren und bei Alina läuft Musik, hört Wolf sie nach dem Auflegen leiser weiter.
    Ihre Wohnung liegt zum Hinterhof hinaus und
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